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80 Jahre Rumbula-Massaker
09.12.2021


Der weite Weg zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur

Gedenken in Rumbula am 30.11.21, Foto: Ilmars Znotins, Valsts prezidenta kanceleja

Die Historikerin Anita Kugler beschreibt in ihrer Scherwitz-Biographie, wie sich vor 80 Jahren im jüdischen Getto Rigas die Mordtruppen formierten: “An diesem ersten Advent des Jahres 1941 läßt der `Höhrere SS- und Parteiführer` Jeckeln eine Tötungsmacht von `mindestens 1.000, maximal 1.700 Männern` gegen die Juden des Ghettos aufziehen. Unter ihnen befinden sich fast alle deutschen Schutz- und Ordnungspolizisten, die in Riga stationiert sind, einschließlich ihrer Offiziere. Ihre genaue Anzahl kennt man für November 1941 nicht. Außerdem sind dabei: zwei Polizei-Reservekompanien aus Mitau und Dünaburg mit etwa 70 Männern; lettische Schutzmänner des 6. und 9. Polizeireviers, vielleicht auch Angehörige der Hafenpolizei, sowie das 20. Schutzmann-Bataillon, zusammen etwa 600 Männer; die meisten Angehörigen der deutschen Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, etwa 150 Männer; einige Offiziere der Waffen-SS sowie der Schutzpolizisten, die Jeckeln zur Verstärkung seines Sonderkommandos eigens aus Danzig hat holen lassen. Die Namen der allermeisten Beteiligten sind unbekannt. Und die, die dabeigewesen sind, versuchen ihr Leben lang darüber zu schweigen.”1


Auf Befehl Heinrich Himmlers sollte Friedrich Jeckeln, der wenige Wochen zuvor das Massaker in Babyn Jar angerichtet hatte, die Insassen des Rigaer Gettos vernichten. Hitlers Regime plante, dort Platz für deportierte Juden aus dem Reichsgebiet zu schaffen. Deutsche und lettische Polizisten brachten am 30. November und 8. Dezember 1941 jüdische Frauen, Kinder und nicht als arbeitsfähig erachtete Männer ins zehn Kilometer entfernte Waldgebiet von Rumbula. Dort mussten sie sich entkleiden, sich aufreihen, um von SS-Leuten erschossen zu werden. Mit mehr als 25.000 Ermordeten gehören der Rigaer Blutsonntag und der Blutmontag eine Woche später zu den größten Massenerschießungen des Holocaust.


Gegen das Schweigen der Täter hat sich die Erinnerungskultur der Opfer entwickelt, die das Gedenken an das Unvorstellbare für zukünftige Generationen wachhält. Nach der lettischen Unabhängigkeit entstand in Rumbula eine Gedenkstätte; an den Jahrestagen des Massakers erinnern hier Politiker, Diplomaten und Angehörige der jüdischen Gemeinde. Staatspräsident Egils Levits, der selbst jüdischer Herkunft ist, war am 30. November 2021 in Rumbula anwesend. In seiner Rede bezeichnete er die Vernichtung jüdischen Lebens als Teil der lettischen Geschichte; das Gedenken daran sei eine moralische Verpflichtung. Er erwähnte die Forschungen des Historikers und KZ-Überlebenden Margers Verstermanis, der die Biographien jener Lettinnen und Letten recherchierte, die unter Lebensgefahr jüdische Nachbarn retteten (president.lv).


Zudem erinnerte Levits daran, dass sich Lettland vor der Besatzung gegenüber Geflüchteten human gezeigt hatte: “Es gehört zu den heutzutage wenig bekannten Tatsachen, dass zur Zeit des Zweiten Weltkriegs der lettische Staat vor Kriegsausbruch eine eigene Politik verfolgt hatte. Während die meisten Regierungen Europas und in der ganzen Welt sich weigerten, Juden aus Europa in ihr Land zu lassen, steigerte Lettland nicht nur seine Immigrationsquoten, sondern bezog im bedeutenden Maß Flüchtlinge der jüdischen Bevölkerung ein. Etwa 3600 Juden aus Deutschland und von Deutschland besetzten Gebieten fanden zwischen 1938 und 1940 in Lettland Zuflucht und Hoffnung zu überleben, bevor es selbst besetzt wurde.”


Levits wies darauf hin, dass der Holocaust unter sowjetischer Herrschaft ein Tabu war. Das bolschewistische Regime hatte kein Interesse daran, über das jüdische Schicksal aufzuklären. Nur unter Schwierigkeiten gelang es der jüdischen Gemeinde damals, in Rumbula einen schlichten Gedenkstein aufzustellen, es war der einzige in der Sowjetunion, der an die jüdischen Opfer erinnerte. Inzwischen sei der Holocaust Teil des lettischen Lehrplans, das Rumbula-Massaker ein Thema der historischen Forschung und das lettische Okkupationsmuseum habe gemeinsam mit dem jüdischen Museum eine spezielle Webseite zu Rumbula entwickelt. Doch Levits deutet seine Zweifel an, ob die bisherigen Bemühungen hinreichen: “Unglücklicherweise sind die Geister des letzten Jahrhunderts nicht verschwunden und verfolgen uns im 21. Jahrhundert weiterhin. Intoleranz, Antisemitismus, rassistische Hassreden, Aggressionen und Krieg nah und fern sind auch heute Realität.”


Ministerpräsident Krisjanis Karins, Justizminister Janis Bordans und Saeima-Präsidentin Inara Murniece nahmen an der Veranstaltung teil; von deutscher Seite war Außenminister Heiko Maas anwesend. Er sprach ein Grußwort an dem Ort, der für “tausende Menschen zur Grabstätte geworden ist”, was ihn “mit Trauer, Entsetzen und Scham” erfülle. Er lobte das “Riga-Komitee, ein Bündnis deutscher, lettischer, tschechischer und österreichischer Städte. Das Komitee hält die Erinnerung an die Opfer des Holocaust in Lettland wach. Seit seiner Gründung vor über 20 Jahren ist es heute auf mehr als 60 Partnerstädte angewachsen. Und das zeigt: Die gemeinsame Auseinandersetzung mit Geschichte kann uns zusammenführen.” (auswaertiges-amt.de).


Auch die lettische Zivilgesellschaft nimmt Anteil. Seit 2016 ruft eine Bürgerinitiative unter dem Motto “Rumbula. Wir gedenken. Es schmerzt” auf, am 30. November in der Rigaer Innenstadt am Nationaldenkmal mit Kerzen zu gedenken. Bereits am 29. November 2021 organisierte die deutsche Botschaft eine Videokonferenz mit den Städten des Riga-Komitees. Gesendet wurde vom Rigaer Bahnhof Skirotava, an dem die deportierten Juden aus dem Reichsgebiet ankamen. Das Bahnhofsgebäude hat sich seit dieser Zeit kaum verändert. Am 29. November 1941 traf - zu früh - der erste Deportationszug aus Berlin mit 1053 Menschen ein. Sie büßten die Fehlplanung der Deutschen und mussten am nächsten Tag mit ihren lettischen Leidensgefährten den Weg nach Rumbula antreten.


Die Hoffnung des deutschen Außenministers, dass die gemeinsame Auseinandersetzung mit der Geschichte die Europäer in West und Ost zusammenführe, scheint allerdings ein frommer Wunsch darzustellen. Ein Streit um ein Denkmal für lettische SS-Legionäre in Belgien zeigt derzeit, wie gespalten und gegensätzlich Ost und West hinsichtlich ihrer Erinnerungskulturen weiterhin sind. Im westflandrischen Ort Zedelgem steht seit 2018 eine Skulptur in Form eines Bienenstocks, die an 12.000 lettische SS-Legionäre erinnert. Die Siegermächte hielten sie nach Kriegsende im dortigen Lager Vloethemveld gefangen. Flanderns Sozialdemokraten zeigen sich empört, sehen darin ein als “Kunstwerk getarntes Denkmal für Hass” (vrt.be) und fordern die Entfernung. (Eine belgische Webseite hat zahlreiche Links zu Presseartikeln veröffentlicht: belgians-remember-them.eu). Lettischerseits wird auf die elendigen Lebensverhältnisse in diesem Lager hingewiesen und auf den Umstand, dass die Mehrheit der lettischen SS-Legionäre von den Deutschen zwangsrekrutiert wurde.  


Die Gemeinde Zedelgem lud Experten zur Konferenz, die eine Empfehlung für den weiteren Umgang mit dem Streitobjekt abgeben sollte. Auch Letten waren geladen. Regierungsberater Martins Kaprans warf westlichen Experten mangelnde Kenntnisse vor: “Die westlichen Historiker haben offensichtlich eine nebulöse Vorstellung von der lettischen Legion und wenn wir nicht dort gewesen wären, dann wäre der Bericht in Bezug auf die schmerzlichsten Fragen der lettischen Geschichte deutlich radikaler ausgefallen.” (lsm.lv) Das lettische Narrativ stellt die SS-Legionäre als Opfer dar, die zwangsrekrutiert und unfreiwillig für die Deutschen ihr Leben riskierten, dann unter sowjetischer Herrschaft dafür diskriminiert und bestraft wurden. Lettische Nationalkonservative betrachten sie sogar als Helden in einer antibolschewistischen Abwehrschlacht, denen sie immer noch Jahr für Jahr am 16. März zum Ärger der internationalen Öffentlichkeit gedenken.


Doch die lettische Gesellschaft bestand nicht nur aus Rettern, Opfern und Zwangsrekrutierten. Das Thema Kollaboration ist in der hiesigen Öffentlichkeit nach wie vor tabu. Letten waren als Hilfspolizisten an den Holocaust-Massakern und an der mörderischen Partisanenbekämpfung in Belarus beteiligt, schließlich fanden sie in der lettischen SS-Legion Unterschlupf, wo sie an der Seite von Waffen-SS und Wehrmacht für nationalsozialistische Kriegsziele kämpften. Dem antifaschistischen Narrativ des Westens und Russlands steht das antibolschewistische Osteuropas entgegen. Der Weg zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur scheint lang zu werden.


1Anita Kugler, Scherwitz, Der jüdische SS-Offizier, Köln 2004, S. 201f.

UB 

 




 
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