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Venedig-Kommission empfiehlt lettischer Regierung Verbesserungen bei den Sprachgesetzen
25.06.2020


Gleichgewicht zwischen Staatssprache Lettisch und Minderheitensprache Russisch nicht immer gewährleistet

Russische Schülerproteste 2003

In einem lettischen Linienbus: Ein junger Eishockeyfan im Trikot von Dinamo Riga steigt ein. Eine Gruppe Jugendlicher spricht ihn auf Russisch an. Er antwortet auf Lettisch, man sei doch schließlich in Lettland. Die Jugendlichen wechseln ins Englische: Man sei nun in der EU und müsse Englisch sprechen. Das ist ein Beispiel für die Streitigkeiten, die Lettisch- und Russischsprachige miteinander austragen. Touristen, die nicht provozieren wollen, sollten das heikle Thema Sprachpolitik lieber meiden. Fast 30 Jahre nach der wiedererlangten Unabhängigkeit ist der Sprachenstreit in Lettland noch immer akut. Während die lettische Mehrheit die eigene Sprache als einzige Amts- und Staatssprache gesetzlich festgeschrieben hat, sieht die russische Minderheit darin eine Diskriminierung ihrer Muttersprache. Die Proteste entfachten vor allem an den mehrfachen gesetzlichen Änderungen für Minderheitenschulen, Russisch als Unterrichtssprache stufenweise einzuschränken. 2017/18 novellierte der Gesetzgeber nochmals: Zukünftig soll der Unterricht an Grundschulen (1. bis. 9. Klasse) bis zu 80 Prozent auf Lettisch erfolgen, auf Mittelschulen (10. bis 12. Klasse) zu 100 Prozent. Zudem ist es zukünftig nicht mehr möglich, die Abschlussprüfungen der 9. und 12. Klasse auf Russisch zu absolvieren. Als Mitglied des Straßburger Europarats, dem fast alle europäischen Staaten angehören, hatte Russland veranlasst, die neuesten lettischen Gesetzesnovellen überprüfen zu lassen. Die Venedig-Kommission, die im Auftrag des Europarats nationale Gesetzgebungen im Hinblick auf internationale Abkommen begutachtet, hat am 18. Juni 2020 ihre Ergebnisse vorgelegt (venice.coe.int). Die fünf Gutachter, unter ihnen der deutsche Völker- und Europarechtler Rainer Hofman, kamen zu einem differenzierten Ergebnis.

Protest russischer Schüler im Jahr 2003 gegen das Gesetz, dass nur 40 Prozent des Unterrichts auf Russisch stattfinden darf, Foto: PCTVL - http://www.rusojuz.lv/public/img/articles_img/11975/fs_0_1455744893.jpg, CC BY-SA 2.5, Saite

Das Gutachten skizziert die schwierige Sprachgeschichte des Lettischen. Bis ins 19. Jahrhundert war das Deutsch der deutschbaltischen Oberschicht die Sprache der Verwaltung und der Wissenschaft. Später hielten die sowjetischen Besatzer Letten dazu an, im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz Russisch zu sprechen. Für Letten wurde die eigene Muttersprache wertlos, Arbeitsmigranten aus anderen Regionen der Sowjetunion bemühten sich nur selten, Lettisch zu lernen und sie erwarteten, dass man sich mit ihnen auf Russisch verständigte. In der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik kam man auch ohne Lettisch zurecht. Das änderte sich seit der lettischen Unabhängigkeit Anfang der neunziger Jahre, als Russischsprachige zwar eigene Schulen behielten, aber lettische Regierungen begannen, das Russische zurückzudrängen und Lettisch zur einzigen verfassungsgemäßen Staatssprache erhoben.

Das lettische Bildungssystem weist die Besonderheit auf, für ethnische Minderheiten eigene Schulen zu unterhalten. Dies ist eine Errungenschaft aus der Zeit der ersten Unabhängigkeit, als Deutsch- und Russischsprachigen weitgehende kulturelle Autonomie zugesichert wurde. Bis heute hat jede ethnische Minderheit einer gewissen Anzahl das Recht, auf Staatskosten eigene Schulen einzurichten. In Lettland existieren 94 Minderheitenschulen für Russen, vier für Polen, zwei für Juden und jeweils eine für Ukrainer, Litauer und Esten; zudem wird in 68 staatlichen Schulen sowohl Normalunterrricht als auch ein spezielles Minderheitenprogramm angeboten. Im Schuljahr 2017/18 waren insgesamt 176.675 Schüler registriert, davon 49.380 an Minderheitenschulen, die Kenntnisse über die eigene Kultur vermitteln. Doch ihre Lehrer haben zukünftig nur noch selten Gelegenheit, in der eigenen Sprache zu unterrichten.

Karlis Sadurskis (Jauna Vienotiba), der 2017 als Bildungsminister amtierte, begründete das weitere Zurückdrängen des Russischen mit den schlechten Lettischkenntnissen der Absolventen von Minderheitenschulen. Laut einer Erhebung seines Ministeriums erreichten die meisten nach der 9. Klasse lediglich ein mittleres Lettischniveau der Stufen B1 oder B2, nur zehn Prozent das Oberstufenniveau C1 und Null Prozent C2. Die Absolventen lettischer Mittelschulen erzielten ein um 15 Prozent besseres Abschlussergebnis als jene von entsprechenden Minderheitenschulen. Der Notendurchschnitt der Abschlussprüfung ist maßgeblich dafür, ob der lettische Staat die Studiengebühren übernimmt oder Studierende sie aus eigener Tasche bezahlen müssen.

Doch Kritiker bemängeln, dass die lettische Regierung über die Köpfe der russischsprachigen Minderheit hinweg entscheidet. Karlis Sadurskis war im Jahr 2004 schon einmal Bildungsminister. Damals verringerte er den Anteil des Russischen an Minderheitenschulen auf 40 Prozent. So provozierte er den Unmut der Russischsprachigen. Sie nutzten die Siegesfeiern zum 9. Mai, um gegen die lettische Sprachpolitik zu demonstrieren. Im Februar 2012 organisierte eine russische Initiative ein Verfassungsreferendum, um Russisch als zweite Staatsprache der lettischen Republik zu verankern. Es wurde mit einer Mehrheit von über 70 Prozent abgelehnt (LP: hier). Augusts Brigmanis, langjähriger Vorsitzender der Bauernpartei, bekannte einmal, dass für Politiker Nationalitätenfragen vor Wahlen “eine unschlagbare Karte” seien. Damit könnten sich auf lettischer Seite die Nationale Allianz und auf russischer die Partei Saskana profilieren (LP: hier). Die Nationalkonservativen plädieren schon lange für Lettisch als einzige Unterrichtssprache an sämtlichen Schulen der Republik. Die jüngste Schulnovelle, an der auch die neue Fünferkoalition unter Ministerpräsident Krisjanis Karins festhält, kommt ihren Forderungen weit entgegen.

Die Venedig-Kommission besuchte im Februar 2019 zwei Tage lang Riga, um mit Politikern über die jüngsten Gesetzesänderungen zu sprechen. Russischsprachige Vertreter beklagten, dass die ethnischen Minderheiten nicht angemessen konsultiert worden seien. Dem widersprachen Regierungsvertreter. Die Gesetzesvorhaben seien mit dem Bildungsbeirat für ethnische Minderheiten, der dem Bildungsministerium untersteht, abgestimmt worden. Dabei stellt sich die Frage, wie repräsentativ dieser Beirat ist. Ein Teil der Russischsprachigen sieht sich offenbar von ihm nicht vertreten und protestiert weiter (LP: hier). Die russische Seite bemängelt die neuesten gesetzlichen Änderungen aber auch aus einem anderen Grund: Es fehle an materieller Ausstattung und qualifiziertem Personal, um die zukünftigen Anforderungen an einen Unterricht in lettischer Sprache zu erfüllen. Ab ersten September müssen die Grundschulen der Minderheiten ihren Unterricht bis zu 80 Prozent auf Lettisch abhalten; die Änderungen für die Mittelschulen treten nächstes Jahr in Kraft.

Die Venedig-Kommission billigt der lettischen Regierung das Recht zu, Lettisch als Staatssprache zu fördern und hat auch keine Einwände, wenn der Unterricht an den Minderheitenschulen weitgehend auf Lettisch stattfindet. Allerdings sieht sie einigen Verbesserungsbedarf, weil auch ethnische Minderheiten das Recht haben, die eigene Sprache zu pflegen. Deshalb bemängelt sie, dass der lettische Gesetzgeber für die Vorschulerziehung nur noch Lettisch zulässt und Russisch als Unterrichtssprache an Privatschulen und an Hochschulen untersagt. Ethnischen Minderheiten müsse die Möglichkeit geboten werden, sich auf allen Bildungsstufen in der eigenen Sprache zu qualifizieren.

Im einzelnen empfiehlt die Kommission:

  • in den Vorschulen wieder zum “bilingualen Ansatz” zurückzukehren,
  • überall dort Minderheitenunterricht anzubieten, wo Bedarf besteht,
  • Privatschulen von der Verpflichtung zu befreien, auf Lettisch zu unterrichten,
  • für Minderheiten zu erwägen, mehr Hochschulbildung in der eigenen Sprache zu ermöglichen, entweder in eigenen oder in staatlichen Einrichtungen,
  • den Unterricht an den Minderheitenschulen regelmäßig zu überprüfen,
  • sicherzustellen, dass erforderliche Lehrmaterialien vorhanden sind und Lehrer die Möglichkeit erhalten, ihre bilingualen Kenntnisse zu verbessern

Die Ergebnisse der Venedig-Kommission wurden in lettischen Medien kaum beachtet, Stellungnahmen von lettischen Regierungsvertretern sind bislang nicht bekannt. Lediglich die Partei Saskana, die als Vertreterin der russischsprachigen Minderheit gilt, zitierte auf ihrer Webseite einige Kommentare (saskana.eu). Ihr Saeima-Abgeordneter Boriss Cilevics meint, dass in den letzten Jahren die internationalen Standards zum Schutz nationaler Minderheiten deutlich gesunken seien. Das sei in erster Linie mit anderen Herausforderungen in Bezug auf Frieden und Sicherheit zu erklären, die zu einem Wechsel der Prioritäten geführt hätten. “Einfach gesagt werden Verstöße gegen Minderheitenrechte nicht mehr als größte Gefahr für Frieden und Sicherheit angesehen. Zudem haben die Bestrebungen einiger Länder, Minderheitenrechte als Vorwand zur Erreichung gänzlich anderer Ziele zu benutzen, die Idee selbst weitgehend diskreditiert. Deshalb ist es umso wichtiger, dass ungeachtet dieser allgemeinen Tendenz die Venedig-Kommission darauf hingewiesen hat, dass lettische Machtinstanzen die Schutzstandards für ethnische Minderheiten in mehreren Bereichen nicht eingehalten haben.”

Elizabete Krivcova, Expertin für Menschenrechte, begrüßte die Empfehlungen der Venedig-Kommission, in den Vorschulen, in privaten Bildungseinrichtungen und an Hochschulen Russisch als Unterrichtssprache zuzulassen. Sie ist zuversichtlich, dass, obwohl internationale Standards nicht in der Lage seien, Minderheitenschulen im vollen Umfang zu schützen, das Prinzip einer qualifizierten Bildung früher oder später Oberhand über die nationalistische Stimmung gewinne, die den Zugang zum Wissen und dessen Verbreitung in der Gesellschaft stark einschränke. “Der Online-Unterricht, zu dem Schulen in der Zeit von Covid-19 übergingen, war ein Lackmustest für die Probleme im Bildungsbereich. Erstens deshalb, weil der Staat die Praxis des Online-Unterrichts gern fortsetzen würde, denn sie verlagert faktisch die Verantwortung für die Qualität garantierter und vom lettischen Steuerzahler finanzierter Bildung auf die Eltern. Zweitens erklärte Bildungsministerin Ilga Suplinska, dass Online-Unterricht eine großartige Möglichkeit bietet, um den Lehrermangel an den Schulen zu bewältigen. Keine Physik- und Chemielehrer? Lasst die Kinder den Online-Unterricht verfolgen!” Krivcova hält gesetzliche Bildungsreformen bei mangelnder Finanzierung für reine Theorie. “Unter solchen Umständen ist die Verwirklichung geplanter Reformen, nicht nur jener, die sich auf die Minderheitenschulen beziehen, sondern auf lettische Schulen überhaupt apriori in der Praxis nicht möglich, ohne die Bildungsqualität zu verringern.”




 
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