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Janis Steinhauers: Vom Mastsortierer zum Bürgerrechtler
30.12.2020


Peteris Blums erinnert an den wagemutigen Letten des 18. Jahrhunderts

 

Der Sassenhof, Zeichnung von J. C. Brotze, Foto: Gatis Pavils (2009), Neaizsargâts darbs, Saite

Die Angehörigen der deutschbaltischen Oberschicht bezeichneten Letten in früheren Jahrhunderten als “Undeutsche”, denen politische Beteiligung und unternehmerische Tätigkeiten versagt blieben. Doch mancher Geschäftsgeist hielt sich nicht an ein fragwürdiges Recht, das die Privilegien der Adeligen und der Rigaer Bürger schützte. Zu den wagemutigen Letten, die Freiheit und Unabhängigkeit einforderten, gehörte Janis Steinhauers (1705 - 1779), dessen Vater vermutlich noch aus einer leibeigenen Familie stammte. Peteris Blums und Namensvetter Jöran Steinhauer erinnern in einer TV-Dokumentation an diesen Urahn der lettischen Nationalbewegung.

 

 

Janis` Vater Matiss kam um 1690 nach Riga, um als Matrose zu arbeiten und später das städtische Amt des “Mastsortierers” auszuüben, das Letten verrichten durften. Sohn Janis erbte diesen Posten. Sein Auftrag war es, zusammen mit einem halben Dutzend Kollegen und bis zu 60 Gesellen sowie 600 Saisonarbeitern Holz für Masten, Querstangen, Windmühlenflügel und weitere Produkte bereitzustellen, die aus Riga exportiert wurden. Wer ein solches Amt innehatte, zählte innerhalb der lettischen Ethnie zu jenen Wohlhabenden, die sich wie die Deutschbalten Häuser in den Vororten Rigas leisten konnten.

 

 

Doch Janis unternehmerischer Eifer gab sich mit einem gut bezahlten Amt nicht zufrieden. Mit dem Holzhandel vertraut, lieferte er bald auf eigene Rechnung. Er exportierte Holzerzeugnisse in andere russische Provinzen und belieferte die Schiffe im Rigaer Hafen. Ihm gelang es, den deutschbaltischen Stadtrat auszutricksen, der den Undeutschen den lukrativen Holzhandel verbot. Ein Geschäft wird in seinen Biographien besonders erwähnt: Dem Herzog Ernst Johann Biron lieferte er mehr als 10.000 Balken für die beiden barocken Schlösser in Rundale (Ruhental) und Jelgava (Mitau). Aus dem Holz formten die Handwerker prachtvolle Treppen, Parkette und Dachkonstruktionen.

 

 

Doch Janis genügte es auch nicht, nur als Händler Geld zu verdienen. Er kaufte mehrere Güter in Pardaugava, also am westlichen Ufer Rigas, um begehrte Ware herzustellen. 1736 wurde er Besitzer von Volera Muiza (Wohlershof) im heutigen Stadtteil Bolderaja. Hier ließ er Bier brauen und Branntwein brennen. Zwei Jahrzehnte später erwarb er Hermelina Muiza (Hermelingshof), errichtete auf dem Anwesen eine Windmühle, mit der er ein Sägewerk betrieb. Schließlich kam 1759 noch Zasu Muiza (Sassenhof) hinzu, wo Steinhauers eine Papiermanufaktur aufbaute, die mehr als 40 Jahre lang in Betrieb blieb. Das hergestellte Papier benutzten die Gouvernementverwalter und der Verleger Johann Friedrich Steffenhagen, aber auch Zucker- und Tabak-Händler, die für ihre Ware eine Verpackung benötigten. Der lettische Geschäftsmann war zudem Kreditgeber und Investor, der über zahlreiche internationale Kontakte verfügte. 1784 verlieh ihm Zar Peter III. den Titel eines Kommerzkommissars.

 

Der Hermelingshof, Zeichnung von J. C. Brotze, Foto: Gatis Pavils (2009), Neaizsargâts darbs, Saite

Doch im Gegensatz zum Zaren verweigerte ihm der Rigaer Rat zeitlebens als Undeutscher die Anerkennung. Ihm war nicht gestattet, ein Bürger Rigas zu werden. Nur eine kleine privilegierte und Deutsch sprechende Schicht der Rigenser bildete die reiche Bürgerschaft, die politischen Einfluss hatte. Die Mehrheit der Städter waren machtlose Untertanen, oft Undeutsche, immer Nichtbürger. Steinhauers begleiteten sein ganzes Leben lang kostspielige Rechtsstreitigkeiten mit dem Stadtrat.  

 

 

Pauls Daija, der über ihn einen informativen Eintrag für die Nationale Enzyklopädie Lettlands anfertigte (enciklopedija.lv), beschreibt ihn als einen Mann, der das Streben nach Gewinn mit Rechtschaffenheit zu verbinden wusste. Steinhauers ließ den Magister Johann August Maskov die historisch verbürgten Rechte der Letten erforschen. Maskov erarbeitete eine “Diplomatische Sammlung”, die das Recht aller Einwohner Rigas auf Ämter, Berufe und auf Freiheiten dokumentierte und aus der die Gleichberechtigung lettischer und deutschbaltischer Einwohner abgeleitet werden konnte. Für Daija bildet der Text eines der bedeutendsten Werke des Baltikums in jener Zeit. In der zeitgenössischen “Livländischen Bibliothek” Friederich Konrad Gadebuschs, die 1777 bei Hartknoch erschien, fällt das Urteil deutlich reservierter aus. Maskov wird als erfolgloser Projektenmacher mit hochtrabenden Plänen beschrieben. Gadebusch lehnt eine Zusammenarbeit mit dem Petersburger Akademiker ab: “Allein seine Gedanken kommen nicht mit dem Meinigen überein.”  

 

 

Steinhauers hatte von seinem Vater eine zweite Tätigkeit geerbt, den Vorsitz der Herrnhuter Brüdergemeine in Riga, die etwa 50 bis 70 Mitglieder umfasste. Er organisierte in seinem Haus Versammlungen, obwohl die Glaubensbewegung in Livland zeitweise verboten war. In diesen Runden redeten die lettischen und deutschen Gemeindemitglieder über Kulturelles, Wirtschaftliches und Politisches. Die livländischen Herrnhuter trugen zur Entstehung des lettischen Nationalbewusstseins bei. Der Vorsitzende vertrat seine Gemeinde auf einer niederländischen Synode, erwarb sogar im amerikanischen Nord Carolina ein Grundstück, um dort Herrnhuter anzusiedeln.

 

 

Rechtschaffenheit kennzeichnete Steinhauers Verhältnis zu den eigenen Landsleuten. Er ließ sie auf den eigenen Gütern arbeiten, wenn sie aus Riga geflohen waren. Einige kaufte er aus der Leibeigenschaft des Adels frei. Schließlich gilt Steinhauers als Erneuerer einer bedeutsamen lettischen Tradition: Erstmals feierte er nach dem Nordischen Krieg auf Zasu Muiza den “Grünen Abend” und erneuerte damit ein vorchristliches Ritual zur Sommer-Sonnenwende, aus dem die heutigen Ligo-Festivitäten hervorgingen.  

 

 

Der Grüne Abend am Daugava-Ufer im 18. Jahrhundert, Foto: Saite

Architekt Peteris Blums, der für seine historische Neugier bekannt ist, sorgt nun dafür, dass sich die lettische Öffentlichkeit an Steinhauers erinnert (lsm.lv). Als Student arbeitete er in den siebziger Jahren im Archiv des Kulturministeriums, wo er Zeichnungen des Ethnographen Johann Christoph Brotze abfotografierte und eine rätselhafte Andeutung entdeckte: “Ich lese eine deutsche gotische Schrift und auf einem der Bilder steht geschrieben: `Auf dem Martinsfriedhof liegt jener Lette`.” Nach der Lektüre des Buchs “Im alten Riga” des Historikers Janis Straubergs hatte Blums den Namen des Landsmanns identifiziert und konnte sogar sein Grab ausfindig machen, dessen Pflege er übernommen hat.

 

Blums bewundert den Unternehmer, Bürgerrechtler und Herrnhuter des 18. Jahrhunderts in vielfacher Hinsicht und bedauert, dass die Öffentlichkeit nicht mehr viel über ihn weiß. Deshalb plante er mit dem Regisseur Ilgonis Linde und dem deutschen Einwanderer und Namensvetter Jöran Steinhauer eine TV-Dokumentation, die am 29. Dezember 2020 im lettischen Fernsehen LTV gezeigt wurde und die noch im Internet zu finden ist (ltv.lsm.lv).

 

Der Name Steinhauer verdeutlicht allerdings das Konstruierte nationaler Zuordnungen. Dieser Familienname kommt aus dem deutschen Sprachraum; Steinhauers Vorname ist dagegen deutlich lettisch. Die Frage, ob jemand Besitz und Privilegien von den Vorfahren geerbt hatte oder in einer Familie von Leibeigenen geboren wurde, bedingte die soziale Spaltung in Stadt und Land. Dass die Sprache der Oberschicht und der Gebildeten Deutsch war, jene des Bauernstandes hingegen Lettisch, war damals mehr ein soziales Phänomen als eines nationaler Zugehörigkeit. Es gab keine unüberwindlichen ethnischen Abgrenzungen. Und somit darf Jöran Steinhauer, der als Norddeutscher nach Lettland immigriert ist, darüber spekulieren, ob er ein Nachkomme seines Namensvetters ist.

UB

 


 
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