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Krisjanis Zelgis` Gedichtband “Wilde Tiere” ins Deutsche übersetzt
03.03.2021


Nichts Lineares weit und breit

Buchcover: Parasitenpresse

 

Gedichtbände sind keine Werke, die sich der Leser lesend erarbeiten kann wie einen Thomas-Mann-Wälzer, der schon vom Umfang her eine Herausforderung ist, vom komplexen Inhalt her um so mehr. In der auf Leistung bedachten Gesellschaft ist es imagefördernd, wenn sich beim nächsten Small Talk behaupten lässt: “Natürlich habe ich den Zauberberg gelesen.” Denn die Partyrunde weiß: Da stecken Fleiß und Ausdauer dahinter. Da macht es Lyrik leichter. Ihre Bändchen haben meistens nur wenige Buchstaben und viel weißes Papier dazwischen. Lesen lässt sich solch ein Büchlein von gerade mal 75 Seiten in einer knappen halben Stunde. Doch Lesen allein genügt eben nicht. Gedichte lassen sich nicht wie ein Lehrbuch erarbeiten. Sie wollen durchblättert sein, um sich von ihnen anrühren zu lassen. Vielleicht ist es nur die eine Zeile, die nicht mehr aus dem Kopf geht und den ganzen Tag lang beschäftigt. Lyrik lädt zum Verweilen, Träumen, zum spielerischen Umgang mit ihren Worten, die sich in die Stimmung des Lesenden einschleichen. So betrachtet hat die Dichtkunst in der heutigen Zeit etwas Rebellisches: Sie fördert Müßiggang und Einbildungskraft und entfremdet vom alltäglichen zeitökonomischen Getriebe.


Krisjanis Zelgis` Lebensdaten widersetzen sich dem, was Erwerbslosen in Bewerberseminaren andressiert wird: Die Erstellung eines zielorientierten, von beruflichem Aufstieg zeugenden Lebenslaufs. Er arbeitete als Bibliothekar an der Lettischen Kulturakademie, als Beleuchter am Nationaltheater, sammelte Weintrauben in Frankreich, betätigte sich als Bauarbeiter in Mexiko, als Bäcker und Schlosser in seiner Heimat Talsi, studierte Umweltwissenschaften, um schließlich als Bierbrauer seinen Lebensunterhalt zu verdienen, derzeit zumindest. Zelgis` lyrisches Ich bekennt sich ungeniert zu dem, was seine ZeitgenossInnen sich nur ungern eingestehen, nämlich zur Freizeit, also zur freien Zeit, zur untätigen Zeit, die nicht fremdbestimmt ist und die für das Bruttoinlandprodukt nutzlos verstreicht:  


mir sind Freizeit wichtig und Nichtstun

Freizeit und Nichtstun sind mir wichtig (S. 5)


Es gehört wohl zu den störenden und ungewollten politischen Einsichten, dass Nichtstun für die Umwelt, in der die wilden Tiere massenhaft aussterben, ökologisch sinnvoller ist als die meisten Formen menschlicher Betriebsamkeit. Die verdrängte Paradoxie, dass Wohlstand produzierender Fleiß und Arbeitseifer zuletzt auch der Menschheit das Grab schaufeln werden, ist in Zelgis` Zeilen wirksam. In seinem ersten Eintrag appelliert er:  


du solltest nicht in Linien denken

es gibt keinen echten Anfang

kein echtes Ende (S. 5)


Das Lineare ist der Selbstbetrug. Die abgerundete, abgeschlossene Form, womöglich mit Happy End die Wunschvorstellung einer fiktionalen Welt. Zelgis bleibt beim Disparaten und Ungereimten der Wirklichkeit und ist daher deutlich realistischer. Die Dialektik der gegensätzlichen Empfindungen, die das wahrgenommene Chaos auslöst, ist die Einheit, die seine Texte zusammenhält. Das macht das Ich der “wilden tiere” an einem traurigen Erlebnis sichtbar, wenn es als Autofahrer ein Reh überfährt. In diesem Moment


saßt ihr hinten

habt einen Witz nach dem anderen gerissen

und erzähltet Geschichten von den lustigen  

Missverständnissen auf euren Reisen

es schien wie ein Traum bis dein Bruder

mich anrief und sagte dass ich den Lackierer

würde bezahlen müssen

es lief leichte heitere Musik (S. 16)


Der Schluss ist nichts als Selbstbetrug, die Schuld am angerichteten Leid verschwindet hinter einer Lebenslüge, verwandelt die begangene Untat in eine Wohltat:


wenn ich ein Reh wäre würde ich mich über

diese überraschend praktische Annäherung an den Tod freuen (S.16)


Die Dinge passen nicht zusammen, die Tiere nicht, die Menschen nicht. Es hat keinen Sinn, den Anfang, den Ursprung, die alte Heimat aufzusuchen, wo der Mensch wieder zwischen “rassistischen Idioten” allein sein wird, weil:


der Rest der Leute

die du liebst

die du vermisst

leben jetzt im Ausland

oder sind tot

oder haben dich betrogen (S. 40)


Dennoch lässt Zelgis` Lyrik nicht verzweifeln, sie tröstet eher mit der Erkenntnis, dass es anderen nicht besser ergeht. Wie ein Schriftsteller des Absurden steckt im Zusammentreffen von Erwartung und Enttäuschung, vom Gereimten und Ungereimten eine groteske Komik:


ich halte an

und höre

meinem Beifahrer draußen beim Pissen zu

mit dem Gesicht auf die gemähte Ewigkeit gerichtet

flaches und knauseriges Semgallen

leer wie ein sauber geleckter Teller (S. 74)


Zelgis` “wilde tiere” sind ein gutes Stück widerspenstiger Literatur. Sie wurde von Adrian Kasnitz ins Deutsche übersetzt. Kasnitz ist auch Mitbegründer des Kölner Verlags, in dem diese Übersetzung im letzten Jahr erschienen ist und dessen Namen so trefflich in diese Zeit passt: Parasitenpresse.


Kriðjânis Zeïìis: Wilde Tiere. Gedichte aus dem Lettischen von Adrian Kasnitz, 78 S., Preis: 12 Euro.

UB




 
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