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Lettische Regierung will “konzeptionell” ab 1. Januar 2023 auf russisches Erdgas verzichten
21.04.2022


Experte kritisiert zu zögerliche energetische Sanierungen der Plattenbauwohnungen

Plattenbauten im Rigaer Viertel Zolitude, Foto: Laurijs Svirskis - Paða darbs CC BY-SA 3.0, Saite

Medien meldeten bereits, dass die baltischen Länder seit Anfang April, nachdem Wladimir Putin verkündet hatte, Gazprom-Kunden müssten zukünftig in Rubel zahlen, auf russische Erdgaslieferungen verzichteten (n-tv.de). Doch so entschieden war die lettische Absage nicht, offiziell hatte die Regierung noch keinen Beschluss dazu gefasst. Aigars Kalvitis, der Vorstandsvorsitzende des Gasversorgers Latvijas Gaze, der mehrheitlich Gazprom gehört, verlautbarte Anfang des Monats, dass sein Unternehmen nur deshalb auf russische Lieferungen verzichte, weil die aktuellen Preise für die Endkunden nicht zumutbar seien (LP: hier). Jetzt kündigte Kalvitis allerdings an, dass Latvijas Gaze nur noch bis Juli liefern könne (nra.lv). Ob das Unternehmen zukünftig noch russisches Erdgas einkaufen darf, bleibt ungewiss; es will die rechtliche Lage prüfen. Derzeit beziehen die Versorger den fossilen Brennstoff aus dem Speicher in Incukalns. Am 19. April 2022 verkündete die lettische Regierung, ab 2023 endgültig auf russisches Gas zu verzichten (lsm.lv). Sie verhandelt mit den baltischen Nachbarn über Flüssiggaslieferungen und plant ein eigenes LNG-Terminal. Während sich der Wirtschaftsminister um neue Lieferanten kümmert, investiert die Regierung nach Ansicht eines Experten zu wenig, um Öl und Gas einzusparen, denn die energetische Sanierung der zahlreichen Plattenbauten geht nur zögerlich vonstatten.


Wirtschaftsminister Janis Vitenbergs bezeichnete den Beschluss nach der Kabinettssitzung am Dienstag als historisches Ereignis, das die Energiesicherheit und Unabhängigkeit Lettlands stärken werde (lsm.lv). Die Regierung möchte bis Ende Dezember zwei Terawattstunden Gas in Incukalns einlagern lassen; dafür sind 230 Millionen Euro vorgesehen (zum Vergleich: 2018 benötigten deutsche Privathaushalte 644 Terawattstunden Energie, etwa Zweidrittel davon für das Heizen (umweltbundesamt.de)). Der staatseigene Versorger Latvenergo wird mit der Speicherung beauftragt. Zudem will die Regierung die Energiekooperation mit Russland und Belarus bis 2025 beenden. Vitenbergs verhandelt mit den baltischen Nachbarn über die gemeinsame Nutzung von Flüssiggasterminals. Derzeit kann Lettland Gas nur über das litauische LNG-Terminal in Klaipeda beziehen. Auch die estnische Regierung plant in Paldiski bei Tallinn ein solches Anladeterminal einzurichten (gem.wiki). Es soll 2025 in Betrieb genommen werden. Das lettische Wirtschaftsministerium wurde vom Kabinett beauftragt, bis Ende Mai eine Kosten-Nutzen-Analyse für ein eigenes LNG-Terminal vorzulegen. Für den Handel mit Öl und Benzin stellte das Ministerkabinett bis Ende des Jahres eine Krisensituation fest. Staatliche Instanzen werden in den nächsten Monaten den Handel beaufsichtigen (lsm.lv).


Die europäischen Länder, die russische Truppen mit Embargo-Politik zum Rückzug aus der Ukraine bewegen wollen, sehen nun in Flüssiggaslieferungen die Alternative. Die Verantwortlichen hoffen auf US-Lieferungen, also auf Frackinggas, das bislang als ökologisch bedenklich galt. Noch bleibt ungewiss, zu welchem Preis und in welchen Mengen es überhaupt geliefert werden kann (freitag.de). Es scheint günstiger, so wenig fossile Energie wie möglich zu benötigen. LSM-Journalistin Linda Zalane ermittelte, dass Lettland 4,5 Milliarden Euro aufwenden müsste, um innerhalb von zehn Jahren die etwa 11.000 Geschosswohnbauten, also die vielstöckigen Plattenbauten, die zu sowjetischer Zeit an den Stadträndern entstanden, energetisch zu sanieren (lsm.lv). Derzeit sind Ausgaben von lediglich 465 Millionen Euro für die nächsten fünf Jahre vorgesehen. Bei diesem Tempo würde es 100 Jahre dauern, um sämtliche Plattenbauten umzubauen. Die Green-Deal-Politik der EU verlangt aber von Lettland, bis 2050 klimaneutral zu werden, also bis dahin keine fossilen Brennstoffe mehr für Warmwasser und Heizen einzusetzen.


Nach der Unabhängigkeit hatten die Bewohner der Plattenbauten im Gegensatz zu DDR-Bürgern die Möglichkeit, ihre Wohnungen gegen Anteilsscheine als Eigentümer zu erwerben, so dass heutzutage die überwiegende Mehrheit der lettischen Bevölkerung in der eigenen Immobilie lebt. Doch nur wenige können sich eine aufwändige Sanierung leisten. Außerdem sind Rigas Mikrorajon-Bewohner von Fernwärme abhängig. Sie werden sozusagen zwangsbeheizt und können die Wärme nicht selbst regulieren. Die Heizkörper sind derart verbunden, dass sich einzelne Wohnungen nicht von der Fernheizung abtrennen lassen. Der enorme Sanierungsbedarf lässt sich also nur mit öffentlicher Finanzierung für ganze Gebäudekomplexe bewerkstelligen.  


Die lettische Regierung verlässt sich auf EU-Finanzierung. Die Wohnungseigentümer sollen die Sanierung zur Hälfte mit EU-Geld und den Rest mit eigenen Bankkrediten finanzieren. Doch es bleibt ungewiss, ob die EU-Mitttel für alle Anträge reichen werden und ob sich alle Antragssteller eine Kreditfinanzierung leisten können. Agris Kamenders, Dozent für Umwelttechnik der Technischen Universität in Riga, kommentiert den Regierungsplan skeptisch. Das Programm sei zu geringfügig und in den letzten zehn Jahren nicht weiterentwickelt worden. Man müsse die Phase der Pilotprojekte überwinden und zu Massensanierungen übergehen. Statt jährlich 200 Bauten müsste ein Vielfaches davon saniert werden. Kamenders wies auf die finanziellen Probleme der Bewohner hin. Deren Zahlungen an die kommunalen Hausverwaltungen reichten nicht mal hin, um laufende Instandsetzungskosten zu decken. Er bezieht sich auf einen Bericht des lettischen Rechnungshofs, nach dem der technische Zustand der Geschossbauten aus der Sowjetzeit größtenteils kritisch sei. Je mehr man die Sanierungen verschiebe, desto größer würden die Probleme, warnt Kamenders.


Auch Gints Mikelsone, Lobbyist der lettischen Bauunternehmer, zweifelt, ob Lettland das EU-Ziel erreichen wird. Er wünscht sich einen eigenen lettischen Fonds, an dem sich Kapitalgeber, Entwickler und Eigentümer beteiligen könnten. Wegen der ungewissen Finanzierung und fehlender Kapazitäten seien energetische Sanierungen für die Bauunternehmen kein attraktives Geschäft, zudem beklagt er langwierige bürokratische Hürden. 44 Prozent der sanierungsbedürftigen Plattenbauten befinden sich auf dem Stadtgebiet von Riga. Dessen Stadtrat plant immerhin, ab nächstes Jahr ein eigenes Programm in dieser Angelegenheit vorzulegen. Vielleicht zieht das Sanierungstempo doch noch an.


UB 




 
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