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Lettische Saeima beschließt Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus
14.08.2021


“Menschenrechte möglichst wenig einschränken”

Grenze zwischen Belarus und Lettland im Jahre 2009, zukünftig soll der 173 Kilometer lange Streifen mit Maschen- und Stacheldraht abgegrenzt sowie mit Überwachungsgeräten kontrolliert werden, Foto:  CC BY 3.0, Saite

 

Die Situation an der litauischen Grenze versetzt auch lettische Politiker in Aufregung. Das Ministerkabinett beschloss diese Woche für die eigene Grenzregion zu Belarus den Ausnahmezustand. Fortan erhalten lettische Grenzer Unterstützung durch Militär, Polizei und Frontex. Die Behörden sollen keine Asylanträge annehmen und die Ordnungshüter sind ermächtigt, Obdachsuchende mit gewaltsamen Mitteln vom Grenzübertritt abzuhalten. Die lettische Saeima hat am 12. August 2021 den Beschluss der Regierung mit 85 von 100 Stimmen gebilligt, es gab keine Gegenstimmen (saeima.lv). Die Abgeordneten folgten weitgehend der Argumentation, dass es sich um einen Hybridkrieg des belarussischen Nachbarn gegen die EU handele und wegen dieser Notsituation die Menschenrechte beschränkt werden dürften. Sie halten die bislang offene Grenze für ein Versäumnis der letzten Jahrzehnte und fordern Stacheldraht und Überwachungsanlagen. In diesem Jahr wurden an der belarussisch-lettischen Grenze bislang 352 Menschen wegen “illegalen” Grenzübertritts festgenommen, davon die meisten Anfang August. Im letzten Jahr stellten in Lettland 145 Menschen einen Asylantrag, nur in den EU-Ländern Estland und Ungarn waren es noch weniger (de.statista.com). In der Debatte bezweifelten einige Abgeordnete, ob dieser Ausnahmezustand mit internationalen Verträgen vereinbar ist, zu denen sich Lettland verpflichtet hat (saeima.lv). Ein Saskana-Abgeordneter erinnerte daran, dass andere Länder 2015 in einer schwierigeren Situation gewesen seien, lettische Politiker darauf aber gleichgültig reagiert hätten. Und ein Nationalkonservativer scheute sich nicht, offen anzusprechen, dass Lettland die irakische Misere mit verursacht hat.



Innenministerin Marija Golubeva (Attistibai/Par!) erläuterte das Vorhaben: Vom 11. August bis zum 10. November 2021 verkündet die Regierung den Ausnahmezustand für die Grenzregionen zu Belarus: Für die Bezirke Ludza, Kraslava, Augsdaugava und für die Stadt Daugavpils. Der Grund sei eine “wesentliche Bedrohung für das Land und auch für die öffentliche Sicherheit sowie für Gesundheit und Leben der Menschen”. Seit dem 6. August sei die Zahl “illegaler” Grenzübertritte stark angestiegen, in wenigen Tagen habe sie in Litauen das Maß des Vorjahres überschritten. Dank des Regierungsbeschlusses könnten nun Grenzschützer gemeinsam mit Polizei und Militär die Grenzkontrollen verstärken und “illegale” Grenzgänger aufhalten. Wird nun ein solches Grenzvergehen festgestellt, sollen die Grenzhüter sie nach Belarus zurückweisen und sich auch versichern, dass die aufgehaltenen Personen der Anweisung Folge leisten. Das Innenministerium arbeite mit dem Militär zusammen, um für die nötige “Infrastruktur” zu sorgen, um illegale Grenzgänger festzunehmen und unterzubringen.



Nicht unbedingt mit den Menschenrechten vereinbar


Die Ministerin deutete an, dass der Beschluss mit den Menschenrechten nicht gänzlich vereinbar sein könnte: “In der Zeit des Ausnahmezustandes kann man in den betroffenen Bezirken kein Asyl beantragen. Das kann man natürlich nach allgemeiner Gesetzeslage im übrigen Lettland immer noch tun. Dieser Beschluss vermindert auf bestimmte Zeit die Rechte einer Person und erweitert die Vollmachten und die Verantwortung der Beamten, unverzüglich über die Rückführung illegaler Grenzgänger zu entscheiden. Alle Bestimmungen des Ausnahmezustandes sind derart gestaltet, dass sie die Artikel der Lettischen Verfassung und die in internationalen Beziehungen bestimmten Menschenrechte möglichst wenig einschränken. Diese Einschränkungen sind ausgewogen und haben ein berechtigtes Ziel: den Schutz der öffentlichen Sicherheit.”



Der Abgeordnete Krisjanis Feldmans (Jauna Konservativa Partija, Regierungsfraktion) bedankte sich beim Ministerkabinett für die Verschärfung der ursprünglichen Vorlage, so dass die Grenzwächter nun “effektiv” ihre Aufgabe erfüllen könnten: “Nun beispielsweise wurde der Punkt 5 darüber eingefügt, dass der staatliche Grenzschutz, wenn er feststellt, dass eine Person illegal von Belarus die Grenze zur lettischen Republik überquert, das Recht hat, physische Gewalt (fizisks speks) und auch spezielle Mittel anzuwenden, folglich nicht bestimmte, sondern eben alle, um eine Person unverzüglich dazu zwingen, in das Land zurückzukehren, von dem sie widerrechtlich [...] die Staatsgrenze überschritten hat.” Zudem begrüßte Feldmans den korrigierten Punkt 6, dass die Behörden vor Ort keine Asylanträge mehr annehmen. Man müsse nun alle Ressourcen für den Grenzschutz aufwenden, anstatt sich mit “bürokratischen Prozeduren” zu beschäftigen.



Die Abgeordnete Ramona Petravica (Kam pieder valsts? ehemalige Regierungsfraktion), die bis vor wenigen Wochen als Sozialministerin amtierte, bekundete offen, dass sie “Immigranten” in Lettland und in der EU nicht für erwünscht hält. Als Negativbeispiele nannte sie Berlin-Kreuzberg und Frankreich und wies auf Hass und Terror hin, der die Sicherheit der Bevölkerung gefährde und für den sie Migranten, zu denen sie offenbar auch Geflüchtete und Asylberechtigte zählt, pauschal verantwortlich machte. Sie hält die kulturellen Unterschiede für unüberwindbar: “Die Immigranten aus dem Nahen Osten haben meistens eine diametral unterschiedliche Auffassung von moralischen und kulturellen Werten, beginnend mit verschiedenen Beschränkungen für Dienstleistungen und Kleidung der Frauen bis hin zum Kinderhandel und späteren Heirat. Solche Werte sind weder für die lettische Gesellschaft, für jeglichen Mitgliedstaat der EU noch für mich hinnehmbar. Die Erfahrungen mit Terrorakten und Hassausbrüchen in den Großstädten Westeuropas, die Bildung von abgesonderten Migrantengemeinden und die Bedrohung der Öffentlichkeit dürfen in Lettland nicht stattfinden.”



Sorge um Lettlands internationales Image


Auch der Oppositionsabgeordnete Boris Cilevics (Saskana) hält den Beschluss im Prinzip für notwendig, zeigt aber Bedenken, ob er internationalen Vereinbarungen entspricht. Zwar werde in der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht unmittelbar Bezug auf das Asylecht genommen, doch es liege eine umfangreiche europäische Rechtsprechung zum Paragraphen 3 (Verbot der Folter) dieses Vertrags vor. Demnach seien Folter, grausame und erniedrigende Behandlung untersagt und Juristen wendeten diese Bestimmung auch auf die Asylpraxis an. Faktisch verletze ein Verstoß gegen das Prinzip, Menschen nicht zurückzuweisen (non-refoulement), diesen Paragraphen. Gewiss müsse Lettland nicht alle Obdachsuchenden aufnehmen, “doch gänzlich die Annahme und Prüfung von Anträgen verweigern dürfen wir nicht”. Cilevics vermisste eine genaue juristische Begründung für den Regierungsbeschluss und wies auf die internationale Wirkung: “Und diese Kollegen, denen Lettlands internationales Image am Herzen liegt und die sich sorgen und gegen irgendwelche Feinde kämpfen wollen, welche sowohl außerhalb und innerhalb zugegen sind und so weiter ... das, nun begreife ich, ist diese beständige Rhetorik. Kollegen! Ist es nicht notwendig, damit anzufangen, sicherzustellen, dass alle Beschlüsse, die wir annehmen, vollständig unsere internationalen Verpflichtungen erfüllen?”  


Schließlich erinnerte der Saskana-Abgeordnete an das Verhalten mancher Kollegen während der Flüchtlingskrise 2015. Damals sei es zu deutlich ernsteren Situationen in anderen EU-Ländern gekommen. Das sei diesen Abgeordneten gleichgültig gewesen und sie hätten Solidarität nicht für nötig gehalten. “Und schon damals sahen einige weitsichtige Experten voraus, dass es notwendig gewesen wäre zu agieren, denn es könne der Tag kommen, dass wir selbst internationale Unterstützung und Solidarität benötigen und nun scheint dieser Tag gekommen.” Lettland gehört zu jenen osteuropäischen Ländern, die sich entschieden gegen eine EU-Flüchtlingsquote zur Wehr setzten.



“Und das alles verursachte der zivilisierte Teil Europas, darunter Lettland”


Aleksandrs Kirsteins (Nacionala Apcieniba, Regierungsfraktion) fand ungewöhnliche Worte. Der relativ größte Teil der Obdachsuchenden stammt aus dem Irak, dessen prekäre Lage die baltischen Staaten mit verursachten, weil sie sich am Irakkrieg von 2003 beteiligten. Kirsteins fragte sich, welche Rolle Lettland in der Verursachung irakischer “Flüchtlingsströme” spiele. Er erinnerte an eine Saeima-Debatte im März 2003, kurz vor dem Angriff, den die Bush-Regierung gemeinsam mit der Regierung Tony Blairs organisiert habe. Die US-Pläne seien von den großen europäischen Ländern, unter ihnen Frankreich und Deutschland, nicht unterstützt worden. “Und die USA mussten Satelliten finden, sagen wir lieber nicht Amerika, sondern gleich konkret die dortige Bush-Administration... in diesem Fall musste sie Satelliten finden, die alle diese Maßnahmen und die Zerstörung des Iraks unterstützen.” Kirsteins bemerkte, dass eine Reihe noch aktiver Politiker damals Saeima-Abgeordnete waren, darunter der heutige Ministerpräsident Krisjanis Karins (Jauna Vienotiba).


“Der Abgeordnete Karins sagte, dass wir uns an der militärischen Operation beteiligen müssen, ungeachtet dessen, dass die UN-Charta es verbietet, ein UN-Mitglied anzugreifen, wenn dieses nicht konkret ein anderes angegriffen hat. Er sagte: `Die Diktatur, die chemische und biologische Waffen einsetzt, muss gestürzt werden. Und deshalb muss man sich an dieser Koalition beteiligen`. Beachten sie also, dass, wenn biologische und chemische Waffen nicht eingesetzt werden, dass man sie doch theoretisch einsetzen kann, ja. Und natürlich reisen Außenminister am meisten. Sandra Kalniete – sie hat sich auf alle europäischen Politiker berufen. Und Ameriks forderte sie auf, nicht auf [Jimmy] Carter und die ehemalige Staatssekretärin Madeleine Albright zu hören und er verglich Hussein mit Hitler und forderte Lettland natürlich auf, sich an der militärischen Operation zu beteiligen, denn, schaut her, dort ist ein Diktator, ja. Dass Diktatoren vielleicht auch in Nordkorea, Kuba, Belarus, Somalia, Iran, Jemen – dieses Turkmenbasy in Turkmenistan regieren – das bekümmert natürlich niemanden.”  


Dann skizzierte Kirsteins das Ergebnis dessen, was die “Koalition der Willigen” unter US-Führung zustande brachte: “Und wie ist die heutige Situation im Irak? Das Bruttoinlandprodukt ist in etwa halb so groß wie zu der Zeit Husseins. Die Elektrizität funktioniert etwa fünf Stunden an einem normalen Tag, Wasserleitung und Kanalisation sind selten intakt. Im Land ereignen sich ein Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten, Terrorakte, die irakische Filiale von Al-Kaida ist voll beschäftigt. Und das alles verursachte der zivilisierte Teil Europas, darunter Lettland.“


Dennoch forderte Kirsteins dazu auf, den “guten” Regierungsbeschluss zu unterstützen. Die Verantwortung für irakische Flüchtlinge schob er auf Großbritannien ab: “Also sollten wir die Frauen und Kinder in die Heimat Blairs schicken, nach Großbritannien, denn wenn der Wohlstand schon nicht zu jenen kommt, denen er versprochen wurde, aber an dessen Stelle wir Zerstörung und Zusammenbruch gebracht haben, dann müssten die Opfer dorthin gehen, wo sich dieser Wohlstand befindet.”

UB 




 
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