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Lettischer Nationalfeiertag in Pandemiezeiten
19.11.2020


Die Corona-Krise verdeutlicht den Personalmangel in den Kliniken

Der 18. November, der Tag der Staatsgründung, ist Lettlands höchster nationaler Feiertag. In normalen Zeiten versammeln sich die Menschen, um Militärparaden anzuschauen, Konzerte zu besuchen, abends am Nationaldenkmal in Riga die Ansprache des Staatspräsidenten zu hören und sich danach an das Ufer der Daugava zu begeben, wo zum Abschluss ein prächtiges Feuerwerk die Nacht erhellt. In der Corona-Zeit sind solche Versammlungen unerwünscht. Festivitäten finden online statt und es geht die Sorge um, wie lange das lettische Gesundheitswesen der Pandemie standhalten wird.

Gebäude der Austrumu Klinik in Riga, Foto: mikroskops - Panoramio, CC BY-SA 3.0, Saite

Staatliche Stellen appellierten an die Bürger, sich an den Fest-Veranstaltungen als Fernsehzuschauer oder Internetnutzer zu beteiligen. Am Bildschirm war zu sehen, wie Parlamentspräsidentin Inara Murniece die Abgeordneten zur Festsitzung nicht im Plenum empfing, sondern in einer Videoschaltung in verschiedenen Räumen begrüßte, in denen sich die Fraktionen getrennt versammelt hatten (la.lv).

 

Ein Tag zuvor hatte sich Ministerpräsident Krisjanis Karins nach Kontakt mit einem positiv Getesteten in Selbstisolation begeben (lsm.lv). Kurz vorher hatte er die Öffentlichkeit gewarnt, dass die Regierung die jüngst beschlossenen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung verschärfen werde, wenn sich die Infektionszahlen nicht verringerten. Sie sind in diesem Herbst deutlich höher als im Frühjahr, als die Zahl der getesteten Infizierten im niedrigen zweistelligen Bereich lag. Inzwischen sind sie meistens dreistellig und erreichten am 12. November den bisherigen Negativrekord von 533 Neuinfizierten. Zwar wird mehr getestet als zum Beginn der Pandemie, doch auch der prozentuale Anteil der positiv Getesteten ist deutlich gestiegen und übertrifft inzwischen die 4-Prozent-Marke, ab der die Pandemieverbreitung von der zuständigen Behörde SPKC als schnell und unkontrolliert bewertet wird (nra.lv). Kurzum: Die Masken sind zurück im lettischen Alltag, in Geschäften, Bussen und Bahnen. Die größte Sorge gilt den Krankenhäusern, bei denen sich die Frage stellt, ob sie der “Stunde X”, bei der Triage droht, entkommen können.  

 

LSM-Journalistin Zane Mace berichtete über die gegenwärtige Situation in verschiedenen Kliniken des Landes. Die einzelnen Häuser sind unterschiedlich gut vorbereitet; in Rezekne sieht sich Klinikleiterin Inese Drike mit ihrer speziell eingerichteten Covid-19-Abteilung gut gewappnet, ihre Kollegin Inga Ozolina in Valmiera beklagt dagegen, dass ihre Klinik nicht hinreichend ausgestattet sei; sie hofft, dass es nicht schlimmer wird. Das Krankenhaus von Ogre meldete am 17. November Covid-19-Erkrankungen innerhalb der Ärzteschaft; die Gemeinde erwägt eine befristete Schließung (lsm.lv). Auch im Krankenhaus von Aizkraukle verbreitete sich das Virus innerhalb des Personals.

 

Die Pandemie verdeutlicht die angehäuften Probleme der medizinischen Versorgung, die jahrzehntelang von den wechselnden Regierungen ignoriert wurden. Die Lettische Presseschau hat oftmals über Personalmangel, mangelnde Finanzierung, lange Wartezeiten, Gewerkschaftsproteste, Ministerrücktritte, erschöpfte und frustierte Ärztinnen und Pfleger berichtet. Noch zu Beginn der Corona-Krise verweigerte die Regierung gesetzlich vereinbarte Gehaltserhöhungen. Mace kommt zum gleichen Befund: “Und hier erhellt die Covid-Krise schmerzhaft die Probleme, die die Medizin seit Jahren zu spüren bekommt. Probleme, über die Ärzte unermüdlich in den Medien als auch in Treffen mit der Regierung gesprochen haben.”  

 

Ärzte erbitteten derzeit vor allem mehr Kollegen und Pflegepersonal, sie seien erschöpft. In der Rigaer Austrumu-Klinik sollte ein Arzt für höchstens zwölf Patienten zuständig sein, tatsächlich sei es oftmals die zwei- bis dreifache Anzahl. In der Corona-Zeit verlängern sich die Wartezeiten bei der Notfallversorgung und auf Behandlungsterminen. Das betrifft nicht nur Covid-19-Fälle, sondern auch Patienten mit anderen Erkrankungen wie HIV oder Hepatitis C. Die Überlastung kann tödliche Folgen haben, wenn zum Beispiel eine Krebsgeschwulst wegen Terminverzögerungen nicht rechtzeitig entdeckt wird. So entsteht ein Teufelskreis, denn zu spät entdeckte Erkrankungen verlaufen schwieriger und müssen länger behandelt werden.  

 

Mace berichtet, dass das lettische Gesundheitswesen im Normalbetrieb 250 Covid-19-Fälle behandeln könne. Derzeit habe man die Kapazität auf über 300 ausgeweitet. Derzeit müssen 15 Erkrankte künstlich beatmet werden. Bei exponentiell steigenden Zahlen könnte der Moment kommen, an dem die Beatmungsgeräte nicht mehr ausreichen und die gefürchtete Triage ansteht.

Für diesen Moment empfiehlt der Lettische Ärzteverband, die Infizierten in vier Gruppen aufzuteilen: Jene, bei denen eine hohe Sterblichkeit prognostiziert wird, sollen die Ärzte nicht an die Beatmungsgeräte anschließen. Jenen, bei denen nur ein einzelnes Organversagen diagnostiziert wird, kommt die gesamte intensivmedizinische Behandlung zu, da die Wahrscheinlichkeit des Überlebens groß ist. Eine dritte Gruppe mit leichteren Krankheitsverläufen steht die intensivmedizinische Behandlung nur dann zu, wenn noch Kapazitäten vorhanden sind; schließlich Patienten einer vierten Gruppe mit leichtem Verlauf, bei der eine medizinische Behandlung nicht notwendig ist.


Von der technischen Ausstattung her ist Lettland von dieser gefürchteten Stunde noch weit entfernt, denn die Krankenhäuser verfügen über mehr als 500 Beatmungsgeräte. Sanita Janka, Abteilungsleiterin im Gesundheitsministerium, hält das Gesundheitswesen für genügend vorbereitet, derzeit käme man mit den Covid-Stationen in den Uni-Kliniken und den Regionalkrankenhäusern zurecht, falls es notwendig sei, könne man weitere Kliniken einbeziehen. Falls allerdings die Menschen leichtsinnig seien und die Regeln missachteten, werde die Zahl der Erkrankten trotz gesteigerter Kapazitäten ansteigen. Doch auch Janka beunruhigt, dass medizinisches Personal erkrankt. Massenhafte Ausfälle von Ärztinnen und Pflegern könnten bei weiter steigenden Infektionszahlen eher zum Kollaps führen als fehlendes technisches Gerät.




 
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