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Lettische Exporte im November 2021 auf Rekordniveau
15.01.2022


Wirtschaft profitiert von internationaler Nachfrage - doch die Armutsquote steigt

Die lettische Forstwirtschaft profitiert von der internationalen Nachfrage, Foto: Bontrager CC BY 3.0, Link

Trotz zahlreicher Pandemiebeschränkungen befindet sich die lettische Exportwirtschaft im Aufschwung. Die lettische Handelsbilanz, die chronisch zu Defiziten neigt - in den letzten Jahrzehnten wurde deutlich mehr importiert als exportiert - befindet sich derzeit nahezu im Gleichgewicht. Das ist tatsächlich eine gute Nachricht für die mittlere Baltenrepublik. Doch wirtschaftliche Daten sind selten eindeutig positiv oder negativ interpretierbar. Konjunktur ist kein Selbstzweck; es kommt darauf an, was produziert wird und wer davon profitiert.


Die Zahlen des Zentralen Statistikamts (CSP) weisen auf gestiegene Umsätze der Exportbranchen. Im November 2021 erzielten lettische Außenhandelskaufleute einen Umsatz von 3,29 Milliarden Euro, 27,6 Prozent (inflationsbereinigt) mehr als ein Jahr zuvor (lsm.lv). In diesem Monat lieferten die Händler für 1,64 Milliarden Euro Güter ins Ausland und importierten im Wert von 1,66 Milliarden. Dass nun Exporte und Importe sich nahezu im Gleichgewicht befinden, lässt sich als günstige Entwicklung bewerten. Bislang mussten Lettinnen und Letten das Handelsdefizit mit dem Angebot von Dienstleistungen im Ausland ausgleichen. Dadurch konnte ein größerer Negativsaldo der Leistungsbilanz vermieden werden. Die Leistungsbilanz umfasst neben der Handelsbilanz im- und exportierter Waren auch die Bilanz im- und exportierter Dienstleistungen: Zum Beispiel konkurrieren lettische Spediteure, die vergleichsweise gering entlohnte Fahrerinnen und Fahrer beschäftigen, mit westlichen Konkurrenten um Aufträge. Dabei haben westliche Firmen mit LKW-Fahrern, die deutlich besser verdienen, im eigenen Land das Nachsehen (LP: hier), weil lettische (und andere osteuropäische) Transporteure die Preise unterbieten. Sollte sich der Trend zur ausgeglichenen Handelsbilanz stabilisieren, könnten die Letten zukünftig auf ein Plus in der Dienstleistungsbilanz verzichten. Eine ausgeglichene Leistungsbilanz ist wichtig, um sich nicht im Ausland verschulden zu müssen. Die gravierenden Folgen von Auslandsschulden haben sich in der Finanzkrise gezeigt: Lettland wurde zum Spielball internationaler Kreditgeber.  


Bei den Ländern, in die lettische Firmen am meisten exportierten, rangierte Deutschland hinter den Nachbarländern Litauen (16,8 Prozent) und Estland (10,8) mit 8,2 Prozent an dritter Stelle, noch vor Russland mit 7,4 Prozent. Bei den wichtigsten Importländern folgte Deutschland mit 11,5 Prozent auf dem zweiten Platz hinter Litauen (18,4), vor Polen (10,2) und Estland (8,1). Im November 2021 verzeichnete die lettische Wirtschaft mit 123 Ländern eine positive und mit 45 Ländern eine negative Handelsbilanz.


In den Branchen der Metall produzierenden und verarbeitenden Industrie, der mineralischen Produkte, der chemischen Erzeugnisse und in der Holzindustrie haben sich die Exportumsätze deutlich vergrößert. Im genannten Zeitraum erzielten lettische Waldbesitzer und Holzverarbeiter einen Exportumsatz von mehr als 92,9 Millionen Euro, das waren 46,6 Prozent mehr als im November 2020. Das Beispiel Holzwirtschaft verdeutlicht das Für und Wider ökonomischer Daten: Der gestiegene Umsatz ist nicht auf entsprechend mehr gelieferte Ware zurückzuführen, zu einem Großteil ist er erhöhten Weltmarktpreisen zu verdanken, weil international eine verstärkte Nachfrage nach Holz zu beobachten ist. Diese dürfte anhalten. Der Bau von Holzhäusern ist weniger klimaschädlich als der von Betonkonstruktionen. Andererseits kämpfen lettische Umweltschützer um den Erhalt der von Abholzung bedrohten Waldflächen als Kohlendioxidspeicher und Lebensraum bedrohter Arten (LP: hier). Das sind bislang nicht aufgelöste Widersprüche zwischen der herkömmlichen Art zu wirtschaften und den ökologischen Herausforderungen, die immer dringlicher werden.  


Doch nicht nur in ökologischer, auch in sozialer Hinsicht ist die wirtschaftliche Entwicklung nicht eindeutig positiv zu bewerten. Eine LSM-Meldung verdeutlicht, dass die Einwohner Rigas und des Umlandes 2019 mehr als Zweidrittel des lettischen BIP erwirtschafteten (lsm.lv). Ein Rigenser erzielte durchschnittlich 25.800 Euro Einkommen pro Jahr, ein Bewohner Lettgallens lediglich 7.900. Während sich das Durchschnitts-BIP der lettischen Hauptstadt dem des spanischen BIP pro Einwohner angleicht, rangiert ein Lettgaller noch hinter dem BIP eines Bulgaren, der aus dem ärmsten EU-Land kommt. Das hat nichts mit Faulheit, mangelnder Intelligenz oder fehlender Bildung zu tun. Es lohnt sich offenbar für private Unternehmer und Anleger kaum, in den lettischen Osten zu investieren. Es fehlt das Kapital, um mit modernsten Maschinen und erneuerter Infrastruktur zu produzieren, welche höhere Wertschöpfung und bessere Löhne ermöglichten. Auch in Lettland ist das wirtschaftliche Missverhältnis zwischen Stadt und Land enorm. Dies zu ändern, wäre eine politische Aufgabe für die Regierung.


Die anziehende Konjunktur ist eine schlechte Nachricht für wirtschaftlich und sozial Benachteiligte, die am Aufschwung nicht beteiligt sind. Während die Mehrheit der lettischen Einwohner von steigenden Löhnen und Gehältern profitieren, vergrößert sich der sozioökonomische Abstand zu jenen, deren geringe Einkommen in der Pandemiezeit stagnieren oder sich sogar vermindern. 2020 gehörten gemessen an der Schwelle von 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens 439.000 Lettinnen und Letten zu den relativ Armen (lsm.lv). Das waren beträchtliche 23,4 Prozent aller Einwohner, eine Steigerung von 1,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Lettgallen betrug die Armutsquote 36 Prozent, in Riga 16 Prozent. Die Armutsschwelle (60 Prozent vom Median-Einkommen) lag für Alleinstehende bei 441 Euro, bei Haushalten mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern insgesamt bei 991 Euro. Menschen über 65 Jahren tragen das größte Armutsrisiko.  


Während besser Verdienende die derzeitige Inflation mit erhöhten Einkommen zumindest teilweise kompensieren, trifft sie besonders jene, die prekär beschäftigt sind und nicht an Lohnerhöhungen beteiligt werden. Im Dezember 2021 erhöhten Hersteller und Geschäftsinhaber die Preise um durchschnittlich 7,9 Prozent im Vergleich zum Dezember 2020. Der Preisanstieg bei fossilen Brennstoffen führt bei einer nach wie vor öl- und gasbasierten Wirtschaft zu Verteuerungen in nahezu allen Branchen. Hinzu kommen die Lieferengpässe einer auf “Just-in-time” getrimmten und weltweit vernetzten Produktion von Herstellern, denen bis zum Pandemieausbruch Lagerhaltung zu kostspielig schien. Die Inflation trifft die lebenswichtige Grundversorgung im besonderen Maß: Kartoffelpreise stiegen um 38,9 Prozent, Preise für frisches Gemüse um 18,3 Prozent, für Mehl und andere Getreideprodukte um 29,3 Prozent. Das bedeutet für Geringverdiener weitere Einschränkungen im täglichen Leben. Jene, die sich als Hilfskräfte in Hotels und Gaststätten verdingen, trifft die wirtschaftliche Negativentwicklung doppelt, denn sie haben nicht nur mit unbezahlbaren Preisen zu kämpfen, sie leben zudem mit dem Risiko, ihren Arbeitsplatz und damit ihr Einkommen zu verlieren. Der lettische Hotel- und Gaststättenverband beziffert den Umsatzrückgang des letzten Jahres nach vorläufiger Berechnung um etwa 40 Prozent (lsm.lv). Experten sagen voraus, dass in diesem Jahr mehrere Unternehmen der Touristikbranche Insolvenz anmelden (lsm.lv). Solche Konjunkturen mit sozialen Schieflagen führen zu einer Vergrößerung des klassistischen Pay Gaps, also zu größerer sozialen Spaltung, gerade jene kommen zu kurz, die eigentlich am meisten von einem Aufschwung profitieren müssten. 

UB 




 
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