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"Man kann nicht nach einem Schlussstrich rufen, bloß weil nicht genügend Akten da sind"
09.05.2007


Aus Anlaß der Stasi-Ausstellung in Riga (s. den Event-Kalender) hat sich die lettische Tageszeitung Diena mit Marianne Birthler unterhalten, der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Mit freundlicher Genehmigung aller Beteiligten bringt die Lettische Presseschau das Interview zeitgleich mit dem Abdruck in Diena.
Marianne Birthler
Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen
Photo: Martin Lengemann
Gibt es für Sie einen besonderen Moment, eine besondere Begebenheit, die Sie mit Lettland in Verbindung bringen?

Wie Sie wissen, hatte ich vor zwei Jahren die Ehre, in Bremen die Laudatio zu halten, als Lettlands Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet wurde. Und bei der Vorbereitung dazu bin ich auf ihre Erklärung zum Europatag 2005 gestoßen. Dieser Text hat mich sehr berührt, weil die Präsidentin dort Russland die Hand zur Freundschaft gereicht hat, gleichzeitig aber die Erwartung geäußert hat, dass Moskau sich zu dem Unrecht der Unterwerfung Mittelosteuropas bekennt - eine in der Sache und im Ton angemessene Erklärung, die mich wirklich beeindruckt hat.

Ebenso wie Ihr Amtsvorgänger Joachim Gauck kommen Sie aus den Reihen der kirchlichen Demokratiebewegung in der damaligen DDR, also der Stasi-Gegner. Qualifiziert eine solche Vita im besonderen Maß für die Leitung der Stasi-Unterlagen-Behörde?

Sowohl bei der Wahl meines Vorgängers Joachim Gauck als auch bei meiner Wahl gab es ein großes Einverständnis darüber, dass die Behörde von jemandem geleitet werden soll, der aus der Bürgerbewegung der ehemaligen DDR kommt. Nicht jeder "Wessi" wäre hier eine Fehlbesetzung, doch hat die Behörde nicht nur einen gesetzlichen Auftrag, sondern auch einen symbolischen Wert, und dazu passt es ganz gut, dass ihr jemand aus der Bürgerbewegung vorsteht. Dies zum einen. Zum anderen ist das allein aber keine ausreichende Qualifikation. In meinem Fall dürfte eine Rolle gespielt haben, dass ich bereits Erfahrungen im Umgang mit Behörden und der Öffentlichkeit hatte.

Im Forschungsbereich befasst sich Ihre Behörde auch mit der Zusammenarbeit der Stasi mit anderen damaligen Geheimdiensten in Osteuropa. Was lässt sich insbesondere zu der Kooperation zwischen dem KGB und dem Berliner Ministerium sagen?
Emblem Ministerium für Staatssicherheit
Mit besten Verbindungen zum KGB:
das Ministerium für Staatssicherheit, kurz: Stasi
Abbildung: Wikipedia

Was die Zusammenarbeit der Stasi mit dem KGB angeht, sind unsere Kenntnisse nur begrenzt, weil die Archive des früheren KGB nicht zugänglich sind. Allerdings kann man über das Studium der Kopien einiges über die Originale in Erfahrung bringen. Wir wissen auch, dass die Geheimpolizeien in Ost- und Mitteleuropa seinerzeit nach dem Modell des KGB aufgebaut wurden und dass es auch eine enge Zusammenarbeit gab. Dabei ging es weniger um direkte Weisungen aus Moskau; vielmehr konnte der KGB Autorität und Macht ausüben.

Zu den "Kunden" Ihrer Behörde. Da sind zum einen Personen, die sozusagen privat Einsicht in ihre Stasi-Akten nehmen möchten; ferner Behörden, die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem früheren Staatssicherheitsdienst überprüfen lassen wollen, und schließlich Journalisten und Wissenschaftler. In der zuletzt genannten Gruppe ist die Zahl  der Anträge in den letzten Jahren ziemlich konstant, in der zweiten eher rückläufig, in der ersten aber schwankt sie stark: 2004 waren es 93 906, 2005 – nur noch 80 574, dann aber 2006 – 97 068.

Da kann ich ergänzen: die ersten drei Monate 2007 deuten darauf hin, dass sich das hohe Vorjahres-Niveau fortsetzen wird. Ingesamt scheint es so, als würde das Interesse an der Vergangenheit und insbesondere an einer Diktatur-Vergangenheit zyklisch verlaufen. Wir kennen das aus der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, da können Jahre vergehen, wo dies ein Thema nur für Spezialisten ist, und dann tauchen plötzlich Einzelfragen auf, die die ganze Gesellschaft und die Medien bewegen. Warum sollte dies bei der Aufarbeitung des Kommunismus in Europa anders sein?

Also deutet dieses Interesse nicht auf einen Schlussstrich nach dem Motto "Jetzt haben wir genug aufgearbeitet", wie dies gelegentlich gefordert wird?

Natürlich gibt es Leute, die sich der Aufarbeitung grundsätzlich verweigern – das haben sie aber auch schon 1990 getan. Manchmal dauert es Generationen, bis das Schweigen gebrochen wird – nehmen Sie nur das Beispiel Spanien, wo man erst jetzt damit beginnt, die Franco-Herrschaft öffentlich zu diskutieren und die Opfer zu rehabilitieren.

Auf der anderen Seite ist der Ruf nach einem Schlussstrich eine naive und lächerliche Forderung: ein Schlussstrich ist in Demokratien einfach nicht durchführbar. Man kann den Menschen ja nicht untersagen, nachzudenken, zu diskutieren, Bücher zu schreiben, zu lesen, zu forschen, das sind Entwicklungen in der Gesellschaft und keine politischen Entscheidungen. Wie soll da ein Schlussstrich aussehen?

Andererseits durchläuft die Entwicklung auch hier verschiedene Phasen. Der Gesetzgeber hat seinerzeit gemeint, 15 Jahre Überprüfungen für Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes würden reichen und sollten nun auslaufen. Doch jetzt gerade ist das entsprechende Gesetz noch einmal geändert worden – auch künftig sollen diese Überprüfungen für einen bestimmten, bedeutsamen Personenkreis möglich sein. Im Grunde folgt die Politik hier auch der öffentlichen Debatte.

Wer ist dieser bedeutsame Personenkreis, der einer Überprüfung unterzogen werden kann?

Möglich ist eine solche Überprüfung bei Personen in öffentlicher politischer Verantwortung und in Führungspositionen des öffentlichen Dienstes, des Sports und in einigen anderen Bereichen.

Also nicht die kleine Sekretärin oder der Sachbearbeiter?

Nein – die Rede ist von jenen, die Verantwortung für andere Menschen tragen.

Ich möchte allerdings betonen, dass die Überprüfung eine Kann-Bestimmung im Gesetz ist, es wird lediglich festgelegt, wer überprüft werden darf. Aber weder der Gesetzgeber noch wir als Behörde bestimmen, wer tatsächlich überprüft wird. Das ist eine Entscheidung, die jeweils vor Ort getroffen wird.

Nicht überall in Mittel- und Osteuropa sind die Archive der einstigen Geheimpolizeien so komplett wie im Fall der Stasi in eine demokratische Gesellschaftsordnung überführt worden. Sollte das Prinzip der Offenlegung auch für unvollständige und lückenhafte Bestände gelten, etwa in Fällen, wo zwar die Karteien erhalten sind, nicht aber die entsprechenden Akten?

Trotz der umfangreichen Überlieferung gibt es auch in meiner Behörde Vorgänge, zu denen wir zwar Karteikarten haben, aber sonst nichts. Die Akten sind nicht mehr auffindbar. Da ist es sehr schwierig, einen Fall angemessen zu beurteilen. Hier bin ich dann auch der Meinung, dass uns der Rechtsstaat verpflichtet zu sagen: solange es keine Beweise für eine Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei gibt, darf die betreffende Person auch nicht beschuldigt werden. Das ist manchmal bitter, weil viele Menschen ja zwei und zwei zusammenzählen können und eigentlich wissen, wer sie verraten hat. Aber der Rechtsstaat verlangt von uns, dass wir im Zweifel zugunsten des Verdächtigten zurückhaltend sind.
Stasi-Unterlagen-Archiv
Das Ergebnis jahrzehntelanger Spitzelwut: 129 000 lfm
Stasi-Akten. Photonachweis: Bundesbeauftragte für die
Stasi-Unterlagen
Gleichwohl sind die Karteien nicht nur ein Instrument, mit dessen Hilfe wir feststellen können, wer schuldhaft belastet ist, sondern sie sind auch sehr wichtige historische Quellen, die uns Auskunft geben darüber, wie der Apparat gearbeitet hat. Diese Unterlagen nutzen ja nicht nur für den Einzelfall, man kann sie auch den Legenden und Lügen über die Arbeit der Geheimpolizei entgegensetzen.

Schließlich: die Aufarbeitung einer Diktatur ist mit einem vollständigen Aktenbestand zwar leichter, aber auch ohne solche Quellen ist sie keineswegs unmöglich. Nach dem Ende des Nationalsozialismus hatten wir in Deutschland wenig Schriftliches, und trotzdem musste man der Vergangenheit ins Gesicht schauen. Man kann nicht nach einem Schlussstrich rufen, bloß weil nicht genügend Akten da sind.

Aus Anlass der Wanderausstellung "Staatsicherheit – Garant der SED-Diktatur" wird in Riga auch der Spielfilm Das Leben der Anderen gezeigt – die mit einem Oscar ausgezeichnete Geschichte eines Stasi-Offiziers, der im Verlauf einer geheimen Abhöraktion tief in das Leben seiner Opfer eindringt. Ist es dem Streifen gelungen, den damaligen Überwachungsstaat adäquat darzustellen?

Ja und nein. Einerseits stimmt an dem Film so manches nicht, so hat es nie einen solchen Stasi-Offizier gegeben – konnte es bei der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit auch nicht geben. Auch ist die Geschichte ein bisschen platt. Andererseits finde ich, dass der Film wichtig ist und sehr vielen Menschen zeigen kann, wie Menschen unter den Bedingungen einer Diktatur leben. Ein Spielfilm ist keine Dokumentation, sondern Kunst. Und man kann durch die Aneinanderreihung von lauter Tatsachen ein falsches Bild erzeugen, aber auch mit lauter erfundenen Dingen die Wahrheit berichten.
Szene aus Das Leben der Anderen
Ulrich Mühe spielt den Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler in
Das Leben der Anderen. Photo: Promo

Auch wenn der Plot unrealistisch ist, erzählt der Streifen zutreffend und sehr berührend von Menschen in einer Diktatur, die – wie die spätere DDR – zwar unblutig, aber nichtsdestotrotz Gewaltherrschaft war, zeichnet ihre Angst voreinander nach, das Misstrauen, die Verzweiflung und den Verrat, die Schwierigkeiten, mutig zu sein. All das kommt hier sehr lebensnah zum Ausdruck. Aus vielen, vielen Gesprächen, die ich nach dem Film geführt habe, habe ich nicht den Eindruck gewonnen, dass Das Leben der Anderen damit verharmlost, als sei die Stasi gar nicht so schlimm gewesen. Die Leute sind berührt und wissen nun ein bisschen besser darüber Bescheid, was in Diktaturen mit Menschen passiert.

Auch wenn einige meiner politischen Freunde den Film am liebsten im Tresor verschwinden lassen würden, nach dem Motto "So einen Stasi-Offizier hat es nicht gegeben" und "Wenn Schüler das sehen, bekommen sie eine ganz falsche Vorstellung" – ich finde, dass der Zuschauer in Das Leben der Anderen von unserem Leben in Ostberlin in den 1980er Jahren ein ganz zutreffendes Bild kriegt.

Vielen Dank für das Gespräch.
-OJR-



 
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