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Lettland: Jahresrückblick 2017, Teil 1
28.12.2017


Die Risse vergrößern sich

GasröhrenproduktionDas Jahr 2017: Für die einen war das Glas halb leer, für die anderen halb voll. Die Bewertung hängt davon ab, aus welcher Perspektive man die Welt und das Geschehen auf ihr betrachtet: von oben oder von unten? Von oben sieht man gute Konjunkturzahlen, eine erholte Wirtschaft, Rückgang der Massenarbeitslosigkeit oder sogar Mangel an Fachkräften; von unten Flaschensammler auf den Straßen, Obdachlose, Kinderarmut, prekär beschäftigte Dienstleister und gestresste Scheinselbstständige, die kaum über die Runden kommen. Die Haarrisse in den Beziehungen verschiedener Gruppen und Menschen verlängern sich, haben sich an manchen Stellen schon zum tiefen Spalt ausgeweitet. Auch die Informationsräume trennen sich; staatstragende Medien, meistens noch gedruckt oder als Rundfunk und Fernsehen verbreitet hier oben; systemkritische Medien, die Grundsätzliches infrage stellen da unten, im noch ungezügelten Internet. Es folgen wechselseitige Fakenews-Vorwürfe und Unverständnis; sag mir, welche Medien du konsumierst, ich sage dir, wer du bist und was du denkst. Misstrauen beherrscht die Europäer, gegenüber anderen, gegenüber Fremden, gegenüber konkurrierenden Nationen, angeheizt durch eine Wettbewerbsideologie, die den Anschein erweckt, als könnten alle gewinnen und die die Verlierer des großen Rattenrennens unterschlägt. Hier der erste Teil des lettischen Jahresrückblicks für 2017.

Schweißt Europa zusammen oder driften seine Nationen auseinander? Symbolisch dafür steht der Streit um die geplante Ostseegasleitung Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland. Röhren für diese Pipeline werden im italienischen Werk Castoro Sei gefertigt, Foto: Von Bair175 - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

Januar

Taize-Kreuz

Das Taizé-Kreuz, Foto: Surfnico - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

Kalt. Nein, das ist nicht alles. Die Menschen sind entgegenkommend. Wir wohnen alle bei Familien in Riga oder Jelgava und wir freuen uns sehr darüber, hier zu sein,“ so beschrieb eine Französin ihren Eindruck, die angereist war, um am Taize-Jugendtreffen (LP: hier) teilzunehmen. Diese Versammlung mit etwa 15.000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde zum Jahreswechsel erstmals in einem baltischen Land organisiert. Stadtverwaltung und engagierte Bürger halfen, boten Übernachtungs- und Verpflegungsmöglichkeiten. Die zahlreichen Veranstaltungen beschäftigtern sich mit den Konflikten in Europa und mit der Frage, wie sie sich friedlich überwinden lassen. Frere Alois erinnerte daran, dass die Europäer für die Lage in anderen Teilen der Welt mitverantwortlich sind. Er forderte Empathie für die Sicht der anderen: „Nur wenn wir uns bemühen, uns in den anderen hineinzuversetzen, können wir auch gegensätzliche Haltungen verstehen und emotionale Reaktionen vermeiden.“ +++ 2017 fanden viele Schweine abermals ein frühzeitiges Ende (LP: hier). Mitte Januar wurden in Krimulda etwa 5000 Säue und Ferkel einer Massenzucht getötet und als Tierkadaver vernichtet. Die Afrikanische Schweinepest alarmiert seit 2014 ostpolnische und baltische Viehzüchter. Wenn die Tierärzte die Seuche an einzelnen Tieren feststellen, wird der ganze Bestand getötet und der Fleischtransport in der Umgebung überwacht. Trotz der Massentötungen in Krimulda und anderen Kreisen verbreitet sich der robuste Erreger weiter.

 

Februar

Demonstration gegen die Sicherheitskonferenz

Protest gegen die Sicherheitskonferenz 2014, Nato-skeptische Demonstranten kritisieren jedes Jahr die Münchener Veranstaltung, werden aber von den meisten Medien nur selten erwähnt, Foto: blu-news.org - Siko 2014 Demo Sicherheitskonferenz Uploaded by indeedous, CC BY-SA 2.0, Link

Dreist und menschenverachtend erwies sich eine Spirituosenbande in der Umgebung von Jelgava. (LP: hier) Sie versorgte alleinstehende und meistens betagte Alkoholabhängige mit Hochprozentigem. Danach präsentierte sie ihnen die Rechnungen. Konnten die "Kunden" sie nicht bezahlen, nahm die Bande ihnen die persönlichen Dokumente und Bankkarten ab, um Renten und Sozialleistungen zu kassieren, insgesamt wurden von mindestens 16 Opfern über 30.000 Euro erbeutet. "Schwere Fälle" steckten die Kriminellen in ein sogenanntes "Altenheim": einem geschlossenen, halb abgebrannten Kindergarten in Livberze. Hier wurden die Hilflosen inmitten des Unrats mit billigen Nudelgerichten abgespeist und bei Ungehorsam im Wald verprügelt. Die Polizei berichtete, dass einige "wie Sklaven" gehalten worden seien. Sie nahm Mitte Februar sieben Personen dieser Bande fest. +++ Was verstehen Europäer unter mehr Sicherheit? Militärische Abschreckung oder Rückkehr zur Entspannungspolitik? Auch darüber sind sich Regierungen innerhalb der EU uneins (LP: hier). Der lettische Verteidigungsminister Raimonds Bergmanis befürwortet den Nato-Beschluss, der alle Mitgliedstaaten dazu auffordert, in Zukunft mindestens zwei Prozent vom BIP für Militärisches auszugeben. Zwei Prozent klingen harmlos. Doch Nato-Mitglied Deutschland allein hätte bei diesem Anteil ein ähnlich hohes Militärbudget wie Russland derzeit. Das Misstrauen gegenüber der russischen Regierung ist in den baltischen Staaten immer noch groß. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz kündigte Bergmanis an, bei zwei Prozent nicht halt zu machen und erwartete auch von anderen `säumigen` Nato-Staaten höhere Rüstungsausgaben. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kritisierte die Gleichsetzung von Sicherheit und Militär. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel stellte den Nato-Aufrüstungsbeschluss in Frage. Westliche Militäraktionen bedeuteten nicht unbedingt mehr Sicherheit und Flüchtlinge seien das Ergebnis verfehlter Militärinterventionen.

 

März

Leprosorium Sturisi

Das Leprosorium in Sturisi, Foto: Agnese Luse

Das Lutherjahr war nicht nur in Deutschland ein kulturelles Ereignis. Auch Letten sind überwiegend protestantisch geprägt. Riga war eine der ersten Städte, in denen sich Luthers Ansichten verbreiteten. Die neue Lehre führte zur Bibelübersetzung, was zur Verschriftlichung des Lettischen und zur Entstehung eines lettischen Nationalbewusstseins beitrug. Theologen und Historiker kamen im März zur Konferenz "Reformation in unserer heutigen Welt" (LP: hier) an der Lettischen Universität zusammen. Sie hielten zahlreiche Vorträge und beteiligten sich an Podiumsdiskussionen. Unter das Lob für den bekanntesten Reformator mischte Luise Schorn-Schütte ihre nüchterne historische Perspektive: Die Lehre des völlig unpolitischen Luthers habe politische Folgen gehabt, auch Spaltung und Krieg verursacht, denn fortan rangen Kaiser, Fürsten, Bischöfe, Bürger und Bauern um die Macht, schoben dabei religiöse Gründe vor. Eine völlig unterschiedliche Auffassung von Kirche und Religion zeigten Janis Vanags, Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands und Gerhard Ulrich, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Während Vanags davor warnte, dass Reformation auch Deformation bedeuten könne, wenn das Evangelium für jede Zeit neu interpretiert werde, betonte Ulrich die Freiheit des Christenmenschen gegenüber einer Kirche, die sich anmaßt, immer recht zu haben. Die christliche Freiheit bedeutet für Ulrich zudem, Grenzzäune abzubauen und die Furcht vor dem Fremden zu überwinden. Im Sinne lutherischer Identität müsse man sich als Brückenbauer und Friedensstifter erweisen. +++ Die deutsche Besatzung von 1941 und 1944 endete nicht nur für die meisten lettischen Juden und für viele Roma mit dem Tod. SS-Angehörige erschossen auch Psychiatriepatienten, weil die Deutschen die Kliniken als Lazarette für Soldaten benutzten. Nach Erkenntnissen der Archivforscherin Agnese Luse stellt sich inzwischen die Frage, ob es die Besatzer auch auf die Insassen des Leprosoriums in Sturisi abgesehen hatten (LP: hier). Es gibt Hinweise, dass Irma Ludzeniece als mutige Ärztin dort eine Massenerschießung im letzten Augenblick verhindert haben könnte. Eindeutig geklärt werden kann der Vorfall aus den überlieferten Dokumenten zwar nicht, doch Luse fand immerhin Belege, dass die Deutschen tatsächlich planten, in Sturisi ein Lazarett einzurichten.

 

April

Kesselwagen

Kesselwaggons auf lettischen Gleisen, häufig transportieren sie russisches Öl gen Ventspils, Foto: LP

Die waghalsigen Geldgeschäfte der Investmentbanker führten zur Finanzkrise von 2009, deren Folgen längst noch nicht überwunden sind. Inzwischen werden manche Bankmanager allerdings vorsichtiger, weil Klagen vor Gerichten drohen. Gerade die Deutsche Bank machte sich in den letzten Jahren mit vielen fragwürdigen, teils illegalen Transaktionen zulasten der Allgemeinheit einen unrühmlichen Namen. US-amerikanische und britische Richter hatten das größte deutsche Geldhaus Anfang 2017 zu insgesamt 587 Millionen Euro Strafe verurteilt, weil sie mutmaßliche Geldwäsche-Geschäfte von russischen Kunden nicht überwacht hatte. Im April gaben die Frankfurter Banker ohne weitere Erklärungen bekannt, dass sie fortan mit lettischen Finanzinstituten keine Dollargeschäfte mehr abwickeln (LP: hier). In Lettland legen Vermögende aus Russland und anderen GUS-Staaten Geld an, häufig könnte Geldwäsche im Spiel sein. Die Deutsche Bank will sich offenbar weiteren Ärger mit den Gerichten ersparen. Die lettische Finanzaufsicht nahm die Meldung gelassen hin. Ieva Tetere, Leiterin der lettischen SEB-Filiale, äußerte sich kritischer. Die Entscheidung der Deutschen Bank sei ein Urteil über Handlungen, die dem lettischen Finanzsektor eher geschadet als genutzt hätten. +++ Aivars Lembergs, der als einflussreicher "Oligarch" Lettlands gilt und seit vielen Jahren die Stadt Ventspils regiert, obwohl ihm das ein Gericht untersagt hat, forderte im April Entschädigungszahlungen von der lettischen Regierung, falls diese der Ölhafenstadt den Anschluss an Nord Stream 2 verweigere (LP: hier). Die geplante Erdgasröhre ist nicht nur Zankapfel in der EU, sondern auch innerhalb des lettischen Establishments. Während jene, die "Oligarchen" genannt werden, gute geschäftliche Beziehungen zu Russland wünschen, beharren Transatlantiker auf eine harte Haltung, wollen Sanktionen, auch wenn sie der eigenen Wirtschaft schaden und plädieren national wie international für ein Verbot einer zweiten Gasleitung durch die Ostsee, weil sie die Ukraine um Transitgebühren bringen könnte.

Mai

Mucenieki

Der lettische Ort Mucenieki, wo sich eine Unterkunft für Asylbewerber befindet, Foto: Saite

Ein weiteres EU-Streitthema: Die Aufnahme von Flüchtlingen. Während sich die Visegrad-Staaten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen strikt weigern, Flüchtlinge aus anderen EU-Ländern aufzunehmen, sind die baltischen Regierungen immerhin bereit, in begrenzter Zahl Menschen aus Kriegsgebieten zu versorgen. Lettland hatte der EU 2015 zugesichert, 531 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland zu übernehmen und 250 neu ankommenden ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Bislang hat Lettland die Zusage nur zum Teil erfüllt und es zeigt sich, dass die Menschen, die in Irak oder Syrien vor dem Krieg flohen, in Lettland nicht hinreichend versorgt werden: Wenn ihnen befristet oder unbefristet Aufenthalt genehmigt worden ist, müssen sie das Asylbewerberheim von Mucenieki verlassen. Die Sozialleistungen der lettischen Regierung sind dann so gering, dass die Betroffenen weder Arbeit noch Wohnung finden können. Viele versuchen dann, in reicheren EU-Staaten bessere Lebensmöglichkeiten zu finden. Der Think Tank Providus und die Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten im Mai eine Konferenz, um über die Situation der Flüchtlinge zu diskutieren (LP: hier) +++ Ein Forschungszentrum der Lettischen Universität, welches durch jährliche Umfragen das Soziale Gedächtnis erkundet, veröffentlichte im Mai neueste Ergebnisse (LP: hier): Die Sichtweisen auf die Geschichte sind zwischen dem lettisch- und russischsprachigen Teil immer noch deutlich verschieden: Während die meisten Letten immer noch die Ulmanis-Diktatur für eine gute Zeit halten, bewertet die große Mehrheit der Russischsprachigen die Sowjetzeit positiv. Immerhin wächst die Toleranz zwischen den Ethnien. Es gibt immer mehr Verständnis dafür, dass die Perspektiven anderer auf die Geschichte von der eigenen Sichtweise abweichen.

 

Juni

Tabaka-Porträt von Wolf Vostell

Wolf Vostell: Maijas Tabakas Porträt. 1978. Zuzanu kolekcija. Foto: Janis Pipars

Bürgermeister Nils Usakovs kann Bürgermeister bleiben. Seine Partei Saskana erreichte auf der gemeinsamen Wahlliste mit der kleinen, christlich orientierten Kommunalpartei Gods kalpot Rigai noch einmal knapp die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, musste aber deutliche Verluste hinnehmen. In Ventspils verschaffen die Wähler dem Bürgermeister Aivars Lembergs unermüdlich satte Mehrheiten: Seine Stadtpartei Latvijai un Ventspilij kam auf 62,13 Prozent. Dabei darf Lembergs laut Gerichtsbeschluss sein Amt gar nicht ausüben. Das Wahlbündnis der Oppositionsparteien erreichte in Ventspils weniger als 25 Prozent. Nur jeder zweite Wahlberechtigte beteiligte sich im landesweiten Durchschnitt an den Kommunalwahlen (LP: hier). +++ 1973 reiste Valdis Abolins, Exillette und Geschäftsführer der Westberliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst nach Jurmala, um die Künstlerin Maija Tabaka für eine Ausstellung sowjetischer Kunst in Düsseldorf zu gewinnen. Erste Versuche des kulturellen Austauschs über den Eisrnen Vorhang hinweg. Die beiden befreundeten sich und Abolins vermittelte ihr Kontakte zu deutschen Künstlern, unter ihnen Wolf Vostell. Tabaka kam 1977 mit einem DAAD-Stipendium nach Westberlin, lebte und arbeitete im Künstlerhaus Bethanien. Der Berliner "Dschungel" faszinierte und befremdete sie zugleich. In der Rigaer Kunsthalle Arsenals waren von Juni bis August jene Bilder zu sehen, die sie damals in ihrer Westberliner Zeit angefertigt hatte (LP: hier).

 

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