„Wer weiß ob des Kriegs genug ist, aber er wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen, und ein großes Liebesmahl, als Friedensfest, auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installieren.“
Novalis, Die Christenheit oder Europa
So manches an Novalis` Europarede von 1799 ist abgegolten, erscheint vordemokratisch und anti-aufklärerisch – und vom Stil her schwülstig. Aber sie weist auch auf eine Eigenschaft des Katholischen, die für das europäische Zusammenleben noch heute wertvoll ist: Lange, bevor Abkürzungen wie EWG, EG oder EU die politischen Schlagzeilen füllten, fühlten sich Katholiken schon als eine europäische Gemeinschaft, deren gemeinsame oberste Autorität der Papst und nicht der Kaiser oder irgendwelche Fürsten waren. Das feite die Gläubigen vor allzu fanatischem Nationalismus und unterwürfiger Staatshörigkeit. Novalis` Behauptung, dass nur die Religion Europa wieder aufwecken könne, mag dem Atheisten nicht geheuer sein. Aber zumindest können Katholiken ihren Teil zum Aufwachen in der EU beitragen. Der Rigaer Erzbischof Stankevi?s wirkt in diesem Sinne. Dafür wählten ihn die Letten zum „Europäer des Jahres 2011“. Er erklärte in seiner Dankesrede zur Preisverleihung am 30.12.11, dass die europäischen Wirtschafts- und Finanzprobleme eine Folge der geistigen und moralischen Krise seien. Was das bedeutet, könne man beispielsweise an Kommentaren im Internet begutachten.
Erzbischof Stankevi?s ist lettischer Europäer des Jahres 2011. Er ist der 14. Preisträger, zuvor erhielten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie u.a. Ex-Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga, die Sängerin Marija Naumova, der Sänger Renars Kaupers, der uneigennützige PC-Hacker Ilmars Poikans (alias "Neo") und die Politiker Valdis Dombrovskis, Andris Piebalgs und Valdis Kristovskis diese Auszeichnung. Auch die einzige lettische Korrespondentin, die aus Brüssel berichtet, Ina Strazdina, wurde 2008 Europäerin des Jahres. Ein Bekannter aus der Sportredaktion erhielt 2002 ebenfalls diesen Preis: Fußballstar Maris Verpakovskis, Foto: Saeima auf Wikimedia Commons
Politiker taten sich diesmal nicht als vorbildliche Europäer hervor
Zum 14. Mal forderten die Vertreter der EU-Kommission und die “Eiropas Kust?ba Latvij?/ Europäische Bewegung Lettland (EKL)” die Internetnutzer auf, den Europäer des Jahres aus einer Liste von 35 Kandidaten zu wählen. Diese stimmten mehrheitlich für Stankevi?s, einem umfassend gebildeten Katholiken mit polnischen Wurzeln. Seit 2010 ist er neuer Erzbischof von Riga. Andris Gobi?š, EKL-Vorsitzender, kommentierte die Entscheidung so: „Es ist interessant, dass am Ende der Krise besonders jene Menschen viele Stimmen erhielten, die nicht mit der Politik verbunden sind, sich aber dennoch große Verdienste um Lettlands Integration in Europa und um Europas Integration in Lettland erwarben.“ Ähnliches Lob finden jene, die für Stankevi?s votierten, die EKL-Webseite veröffentlichte einige Kommentare: Er sei ein moderner Europäer, der entsprechende Werte in Lettland vertrete. Stankevi?s begründete in seiner Rede, warum Europa die Religion als Vermittlerin geistiger Werte brauche.
Dieses Zeichen warnt vor "Internettrollen". So bezeichnen die Internetnutzer jene Webseitenbesucher, die mit provozierenden Kommentaren auf sich aufmerksam machen wollen, Grafik: JeanNoJNL auf Wikimedia Commons
Internet-Kommentare: Minderwertigkeitskomplexe statt Argumente
Der Kern Europas sei die Achtung der Menschenwürde. Diese werde beschädigt, wenn sich die Menschen dem Egoismus und dem Materiellen unterwerfen. Stankevi?s zählt darunter nicht nur die fleischlichen Bedürfnisse, sondern auch die `niedrigen` seelischen wie Ehrgeiz, Macht- und Geldgier. Rigas Metropolit, der vor seinem Theologiestudium als Ingenieur arbeitete, fordert keine Verschmähung des Weltlichen, aber es soll in einem ausgeglichenen Verhältnis zum Geistigen und Spirituellen stehen. Deshalb seien geistige Werte erforderlich. Solche vermisst er bei vielen Internet-Kommentaren. Zwar gebe es Nutzer, die klug argumentierten, doch die meisten verspritzten lediglich ihre Galle, drückten nur ihre Emotionen aus. Es gehe solchen Schreibern nicht um die Sache, sondern sie bekundeten ihre Minderwertigkeitskomplexe. Stankevi?s fordert dazu auf, mit Verstand zu kommentieren und substanzlose Emotionalität zu unterlassen. Dies betreffe natürlich nicht nur das Internet. Auch in politischen und wirtschaftlichen Debatten trenne man die Sache nicht von der Person. Zur Menschenwürde gehöre es, den Kontrahenten nicht `fertig zu machen`. „Das ist eine große Forderung – zu erlernen, den einen oder anderen Schritt des Menschen, die Fehler oder Handlungen zu kritisieren, ohne ihn selbst zu vernichten. Dazu benötigt man etwas Verstand, ein gewisses Niveau.“ Der Egoismus in den Streitgesprächen ist für den Geistlichen ein allgemein zu beobachtendes Prinzip. Oft helfen sich die Menschen nicht, wechselseitig in die Höhe zu kommen, sondern sie seien bestrebt, sich gegenseitig herunter zu machen. Deshalb erinnerte Stankevi?s an einen Satz des Dichters J?nis Rainis: „Erhebe einen anderen und du erhebst dich selbst.“ Zugleich betonte der Preisträger den unermesslichen Wert des Menschen, der nicht abhängig sei von der Geburt, der Orientierung, den Sprachkenntnissen, dem Ausbildungsniveau oder gar dem Kontostand.
Die Jakobskirche in Riga ist Sitz des katholischen Erzbischofs, Foto: LP
Die katholische Kirche ist nicht der Feind der Homosexuellen
Stankevi?s wurde im August 2010 zum Rigaer Erzbischof ernannt. Seinen Sitz, die Rigaer Jekabskirche, benutzt er nicht als Zwingburg, um religiöse Dogmen vor dem Zeitgeist zu verteidigen. In seinen Interviews erweist er sich als ein Katholik mit einer weltoffenen und toleranten Haltung, der das Gespräch mit Menschen sucht, die der Kirche fern stehen. Für ihn gehören auch Homosexuelle zu seiner Gemeinde, wie er der Nachrichtenagentur LETA am 25.6.2010 bekannte, allerdings mit den üblichen Zurechtweisungen: „Ich fühle mit jenen Eltern, welche Schwierigkeiten haben, eine andersartige sexuelle Orientierung ihrer Kinder zu akzeptieren, denn mir ist bewusst, dass die Familie und die Verwandten diese Menschen häufig aus ihrem Kreis verbannen. Der Mensch muss unabhängig von seiner sexuellen Orientierung angenommen und akzeptiert werden, aber das bedeutet nicht, dass seine innere Unordnung akzeptiert wird. Die Kirche ist nicht der Feind der Homosexuellen, ganz im Gegenteil, sie bietet ihm die Möglichkeit, die Vergebung zu empfangen und seine Seele zu ordnen.“
Blick von der Jakobskirche auf den Rigaer Dom, der seit der Reformation protestantisch ist. 2010 zählten die Statistiker insgesamt 1141 Kirchengemeinden in Lettland. Davon sind 296 protestantisch, 210 römisch-katholisch und 121 orthodox. Foto: LP
Geistige Wiedergeburt als Ziel
Die Laudatorin Sakaidrite Lasmane, Leiterin des Sozialen und Politischen Forschungsinstituts der Lettischen Universität, nannte biographische Gründe, die Stankevi?s zu einem umfassend gebildeten Europäer machten, der die materielle Welt genauso studierte wie die geistige. In seiner Ingenieurausbildung lernte der 1955 Geborene den technischen Rationalismus kennen. Er beschäftigte sich mit automatisierten Steuerungssystemen. Danach studierte er Theologie in Lublin und Rom. Seine Doktorarbeit schrieb er 2008 über den deutschen Religionsphilosophen Bernhard Welte. Das Wissen und der Glauben sind gute Voraussetzungen für den Bischof, sein anspruchsvolles Ziel zu erreichen, das Lasmane so formuliert: Die geistige Wiedergeburt Lettlands nach der Zeit einer postsowjetischen und post-kolonialen Gesellschaft und ihre Verwandlung in eine freie, ehrwürdige und gerechte in einem gemeinsamen europäischen Raum.
Externe Linkhinweise:
diena.lv: Amat? st?jas jaunais kato?u bazn?cas arhib?skaps Zbig?evs Stankevi?s
radiovaticana.org: Doma bazn?c? iesv?t?ts jaunais R?gas arhib. Zbig?evs Stankevi?s
es.gov.lv: 2011.gada Eiropas cilv?ks Latvij? - Zbig?evs Stankevi?s 30.12.2011
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