Lettisches Centrum Münster e.V.

   
127814

Lettische und litauische Milcherzeuger klagen über Preisverfall
08.02.2023


Kleine Betriebe verlieren den Konkurrenzkampf

Handmelken als unrentables Vergnügen, Foto: Jonathunder CC BY-SA 3.0, Saite

Im Nachbarland Litauen protestieren Milcherzeuger gegen zu geringe Preise, die nicht einmal die Betriebskosten decken (lsm.lv). Vor Molkereien und Supermärkten stellen sie Kreuze auf, um die Öffentlichkeit auf ihren beruflichen Existenzkampf aufmerksam zu machen. Die Landwirte weigern sich, weiterhin zu billig an Milchverarbeiter zu verkaufen; Menschen kommen mit großen Kannen zu ihnen, weil sie ihr Produkt lieber verschenken. Auch lettische Milcherzeuger erwägen Proteste. Im letzten Sommer frohlockten noch ihre Vertreter, weil der Erzeugerpreis mit 54 Cent pro Liter einen Höchststand erreicht hatte und sogar das durchschnittliche Preisniveau in der EU übertraf (laukos.lv); nun ist er auf unter 30 Cent gefallen (lsm.lv). Die Milchtanks der Molkereien sind voll. Derzeit scheint sich ein neuer Schub des Höfesterbens anzubahnen. Was für die einen eine Existenzgefährdung bedeutet, stellt sich für andere als Marktbereinigung dar.


Seit 2015 hat sich die Zahl der lettischen Milchproduzenten halbiert; im letzten Jahr gaben nochmals rund 400 Halter von Milchkühen auf. Die derzeitige Krise wird das Ende der kleinen Familienbetriebe beschleunigen. Ihnen fehlt das Geld, um genügend Kühe zu halten und mit modernsten Gerätschaften zu melken. Das wäre notwendig, um auf dem EU-Binnenmarkt zu bestehen. Eine lettische Landwirtin, die nach 30 Jahren die Milcherzeugung aufgibt, verdeutlichte gegenüber LSM, welchen Stress die mangelnde Konkurrenzfähigkeit verursacht. Ihrer Ansicht nach können Landwirte und ihre Arbeiter auf kleineren Höfen kein durchschnittliches Einkommensniveau erreichen. “Das bedeutet einen ununterbrochen hohen Stresspegel, wenn du bis über die Ohren verschuldet bist. Und wenn der Preis hoch ist, dann atmest du durch und dann fällt er wieder.” Allerdings ist sie auch der Meinung, dass die Landwirte für ihre missliche Lage teilweise selbst verantwortlich sind, weil sie zögern, sich zu Kooperativen zu vereinigen; sie kritisiert zudem, dass das Landwirtschaftsministerium die Gründung von solchen Zusammenschlüssen nicht fördert. Lettische Milch-Kooperativen stellen ihren Mitgliedern teure Melkmaschinen zur Verfügung, die sich Landwirte mit kleineren Höfen nicht leisten können. Während ein einzelner Milchproduzent den Preis akzeptieren muss, den die Molkerei bietet, haben Kooperativen eine gewisse Verhandlungsmacht und können, falls die Nachfrage es zulässt, bessere Preise erzielen.


Doch die Marktmacht der Kooperativen ist begrenzt. Die Milchverarbeiter weisen darauf hin, dass ihre Lager voll sind und sie bei Exporten derzeit selbst unter Preisdruck stehen. Etwa Zweidrittel der lettischen Frischmilch wird ins Ausland geliefert. Polen scheint diese Milchkrise besser zu überstehen. Wer aufgibt, verkauft Kühe und Gerätschaft nach Polen. Wer Kunde in lettischen Supermärkten ist, dem fällt auf, dass polnische Lebensmittel häufig günstiger angeboten werden als lettische. Ein Grund dafür ist der polnische Zloty, der bei zu hohem Preisdruck abwertet und damit die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Exportwirtschaft sichert. Doch der wichtigere Grund für das Höfesterben ist, dass allenthalben, wo unter Freihandelsbedingungen produziert wird, Kleinbetriebe früher oder später aufgeben müssen, weil sie nicht das Geld haben, die Produktion derart zu erweitern und zu modernisieren, dass sie mit den Großbetrieben konkurrieren können. Hinzu kommt, dass die EU-Subventionspolitik Größe belohnt. Das Geld aus Brüssel richtet sich nach der Anzahl des Viehs; das ist für Kleinbauern, die nur 20 Kühe im Stall haben, zuwenig.


Ein weiterer Grund für das Milchdesaster ist die überdurchschnittliche Inflation in den baltischen Ländern. Manche Käsesorten, die vor zwei Jahren noch auf dem alltäglichen Speiseplan standen, erreichen jetzt sogar beim Discounter Delikatespreise. Die litauischen Landwirte sind erbost, dass Lebensmittelketten die Milch fünf mal teurer verkaufen, als sie selbst für ihr Produkt bekommen. Offenbar profitieren Molkereien und Lebensmittelketten vom Überangebot und erhöhen die Gewinnspannen. Ihre teuren Angebote an die Endkunden werden die Nachfrage nicht erhöhen. Neben Lieferkettenproblemen und höheren Energiepreisen, die die Lockdown- und Sanktionspolitik der letzten Zeit verursachten, sind es überdurchschnittliche Lohnsteigerungen, die in Lettland die Inflation zusätzlich anheizen, so dass sie deutlich höher ausfällt als in anderen EU-Ländern. Die Verbraucher müssen trotz erhöhter Nominallöhne nun Kaufkraftverluste hinnehmen. Da bleibt der Einkaufszettel klein und übersichtlich.  


Zigmars Kikans, Abteilungsleiter im lettischen Landwirtschaftsministerium, hält die Krise für die Folge eines notwendigen ökonomischen Wandels: “Wenn wir die längerfristige Entwicklung betrachten, dann erfolgt sie dermaßen, dass sich strukturelle Änderungen vollziehen, nicht nur in der Branche der Milchwirtschaft, auch in anderen Zweigen der Landwirtschaft erfolgen Veränderungen.” (lsm.lv) Kikans meint, dass die Zahlungen an die Bauern Ende des letzten Jahres erst einmal ausreichen und das Ministerium noch nicht handeln muss. Doch es will die noch nicht vorliegenden Daten des Preisverfalls auswerten, um die nächsten Maßnahmen zu erwägen. Der Lobbyverband “Zemnieku saeima” plant indessen, gegen den hohen Anteil ausländischer Produkte in lettischen Supermärkten zu protestieren. Er will die Logistikzentren der Lebensmittelketten blockieren (lsm.lv).


Udo Bongartz 




 
      zurück