Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Lettland: Ministerpräsident Krisjanis Karins entlässt auf dem Höhepunkt der Pandemiekrise Gesundheitsministerin Ilze Vinkele
06.01.2021


Verteidigungsminister Artis Pabriks weigert sich, kommissarisch das Gesundheitsressort zu übernehmen

Ilze Vinkele, Foto: Saeima - CC BY-SA 2.0, Link

Die angekündigte Entlassung, die Karins am Donnerstag beim Staatspräsidenten beantragen wird, begründete er in einer Online-Pressekonferenz vom 5. Januar 2021. Er selbst sei in der Corona-Krise stets für entschlossenes Handeln eingetreten. Doch bei der Gesundheitsministerin sei er auf Widerstand gestoßen. Es sei zu Meinungsverschiedenheiten bei der Maskenpflicht gekommen und lange habe das Gesundheitsministerium über keinen Plan zur Pandemiebekämpfung verfügt. Karins hatte Vinkele beauftragt, einen Plan zur Massenimpfung der Bevölkerung auszuarbeiten. Auf den habe er lange geduldig gewartet. Er sei erst kurz vor der letzten Kabinettssitzung am Dienstag vorgelegt worden. Lettland kämpfe nun schon seit einiger Zeit gegen die Pandemie an und nun sei man in einer entscheidenden Phase.

 

Nur die möglichst rasche Immunisierung der Bevölkerung könne den Ausnahmezustand mit seinen Beschränkungen beenden, um ins normale Leben zurückzukehren. “Grundlage muss ein klarer, für die Öffentlichkeit verständlicher Plan über den Zugang zu Impfstoffen sein. Bereits seit Beginn der zweiten Pandemiewelle kämpfen wir mit den Folgen des Umstandes, dass kein klarer und nachvollziehbarer Aktionsplan vorlag, um schnell und unverzüglich zu handeln. Die Folgen sind Spekulation und Desinformation und wir alle leiden als Gesellschaft schon jetzt darunter. So können wir nicht weitermachen,” meinte Karins (lsm.lv).

 

Dem Regierungschef erscheinen zudem die Verträge mit den Impfstoff-Herstellern rätselhaft. Es sei “sehr verwirrend” gewesen, auf einer Kabinettsitzung erfahren zu haben, dass “unser Land” (gemeint ist offenbar die Gesundheitsministerin) auf zusätzliche Lieferungen von Pfizer/BioNTech verzichtet habe. Das Kabinett habe diesen Beschluss geändert, so dass nun maximale Mengen geliefert werden können. “Daher bleibt es etwas unverständlich, dass solch eine Situation unter Bedingungen entstehen kann, unter denen diese Impfstoffe dringend erforderlich sind, dass jemand noch darüber nachdenkt, auf zusätzliche Dosen zu verzichten, die der Hersteller uns anbietet. Und dies sind Dosen eines Herstellers, die bereits auf dem Markt sind und deren Verwendung von der EU genehmigt worden ist.”

 

Ilze Vinkele, eine langjährige Politikerin, die im Kabinett von Valdis Dombrovskis Sozialministerin war, erklärte ihrerseits den Journalisten am Dienstag, dass der Ministerpräsident eine Schuldige suche, um Verantwortung abzuwälzen. Ein Plan zur Massenimpfung habe lange vorgelegen, Spezialisten hätten ihn ausgearbeitet. Der Plan sei noch kurz vor der Kabinettsitzung aktualisiert worden. Änderungen sind offenbar wegen mancher Unwägbarkeiten erforderlich, gerade habe die EU-Arzneimittelbehörde die Zulassung des Impfstoffs Moderna verschoben. Wenn von politischer Seite Expertenbeschlüsse bezweifelt würden, sei das der Weg in eine noch tiefere Krise. Karins selbst sei nicht fähig, das zu tun, was er verlange, nämlich unverzüglich zu handeln.

 

Ministerpräsident Karins führt eine fragile Fünfer-Koalition aus rechtsliberalen und nationalkonservativen Parteien an, deren Ziel es ist, die größte Parlamentsfraktion, die sozialdemokratische Saskana, die als Vertreterin der russischsprachigen Minderheit gilt, von der Macht auszuschließen. Zu Karins` Regierungsstil gehört es, Minister öffentlich zu beauftragen, ihnen Fristen zu setzen und sie auf Pressekonferenzen scharf zu kritisieren.  

 

Karins selbst ist Mitglied der kleinsten Regierungsfraktion, der Jauna Vienotiba (JV), einer Partei, die aus einem Parteienbündnis weitgehend wirtschaftsliberal orientierter Parteien hervorging. Ilze Vinkele gehört dem liberalen Parteienbündnis Attistibai/Par! (AP) an. Bereits vor einem Jahr, als sich die neue Regierung gerade gebildet hatte, stritten die Ministerin und der Regierungschef miteinander. Karins wollte dem medizinischen Personal eine Gehaltserhöhung verweigern, die die Vorgängerregierung unter Maris Kucinskis beschlossen und die Parlamentsmehrheit schon gebilligt hatte. Noch zu Beginn der Pandemiekrise drängte Karins` Kabinett auf Haushaltsdisziplin zulasten von Ärzten und Krankenschwestern. Die Gesundheitsministerin war anderer Ansicht und appellierte, für Mehrausgaben im Gesundheitsbereich die staatlichen Schulden zu erhöhen. Höhere Staatsausgaben und mehr Geld für das medizinische Personal erwiesen sich im weiteren Krisenverlauf als unvermeidlich.

 

Die Entlassung Vinkeles erfolgt auf dem bisherigen Höhepunkt der lettischen Pandemiekrise. Im Frühjahr blieben die Infektionszahlen gering und kontrollierbar. Im Sommer hatte die mittlere Baltenrepublik eine der geringsten Inzidenzwerte in Europa. Touristen wurden abgeschreckt, weil eine Anreise aus Corona-Krisenregionen zu einer 14tägigen Quarantäne verpflichtete und nach den strengen Maßstäben der zuständigen Behörde SPKC wurden im Verlauf des Spätsommers sämtliche Länder Europas zur Krisenregion ernannt, nur der Vatikan blieb eine Ausnahme. Doch seit dem Herbst steigen die Infektionszahlen deutlich. Täglich meldet das SPKC ermittelte Neuinfektionen im höheren dreistelligen Bereich, zuweilen auch über tausend. Der Anteil der positiv Getesteten ist derart hoch, dass die Epidemiologen die Infektionsherde nicht ermitteln können. Viele Kliniken arbeiten an der Kapazitätsgrenze. Die Ärzte weisen Rettungsdienste ab, weil Abteilungen belegt sind. Die Rettungssanitäter müssen in solchen Fällen ihre Patienten zu Krankenhäusern bringen, die weiter entfernt sind.

 

Das Hauptproblem der lettischen Gesundheitsversorgung ist der Personalmangel. Diesen hat nicht Vinkele zu verantworten, sondern er ist das Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse der wechselnden Mitte-Rechts-Regierungen. Die Lettische Presseschau berichtete oftmals über die Proteste der Ärzteschaft und des Pflegepersonals. Die Regierenden haben deren Klagen fortwährend überhört. An der Arbeitsüberlastung, den kläglichen Gehältern, langen Wartezeiten und hohen Zuzahlungen für Patienten hat sich jahrzehntelang nichts geändert. Daher lässt sich der jetzige Zustand in lettischen Kliniken und Arztpraxen schwerlich als Ausnahmezustand spezifizieren, denn Ausnahmezustand herrscht für das medizinische Personal schon seit vielen Jahren.

 

Noch ist unklar, welche Folgen Karins` unerwartete Entscheidung für die Regierung hat. Er beauftragte Vinkeles Parteifreund Artis Pabriks, der als Verteidigungsminister amtiert, das Gesundheitsressort kommissarisch zu übernehmen. Doch Pabriks lehnte ab, zeigte sich über die unerwartete Entlassung erschüttert und forderte von Karins, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Über das weitere Vorgehen seiner Fraktion AP wollte sich Pabriks nicht äußern. Er deutete allerdings an, dass ein Sturz der Regierung nicht dem gesundheitlichen Interesse der Bevölkerung entspreche. Eine Stellungnahme des betroffenen Parteienbündnisses AP, dem Vinkele angehört, steht noch aus. Politische Beobachter werten Karins` Vorgehen unterschiedlich. Einige loben seine Entschlusskraft. Inga Paparde hingegen erläutert in einem Beitrag Vinkeles Impfplan, der sich als durchaus detailliert erweist, aber wegen fehlender Informationen über lieferbare Impfstoffe ständig angepasst werden musste. Sie fragt, ob der Hinweis auf den fehlenden Impfplan nur ein Vorwand darstellte, um eine streitbare Ministerin zu entlassen (nra.lv).

 

Zuletzt erschien das Agieren des Kabinetts recht hektisch. Angesichts steigender Infektionszahlen wurde für die Zeit des Jahreswechsels quasi über Nacht eine nächtliche Ausgangssperre angeordnet und die Zeit des Lockdowns bis zum 7. Februar verlängert.  

UB




 
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