Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Erneut Sprachenstreit in Lettland
26.10.2017


„Wieder eine Erniedrigung der russischsprachigen Einwohner“

Lettisches StraßenschildMehrere hundert Menschen versammelten sich am 23. Oktober 2017 vor dem lettischen Bildungsministerium. Lsm-Reporterin Judite Cunka erntete von den Demonstranten empörte Kommentare wie diesen: „Ich bin deshalb gekommen, weil schon wieder eine Erniedrigung der russischsprachigen Einwohner erfolgt. Es ist nicht gleich dieser Übergang auf die lettische Sprache. Aber er spielt eine Rolle im Spiel der Erniedrigung. Ein Mensch beendet die Schule, er versteht nicht einmal seine Muttersprache richtig zu schreiben,“ sagt ihr ein Grigori ins Mikrofon (lsm.lv). Das Thema Muttersprache ist in Lettland heikel und erregt die Gemüter. Anfang Oktober hatte Bildungsminister Karlis Sadurskis seinen Plan vorgestellt, in Zukunft mehr Lettisch in den Minderheitenschulen vorzuschreiben. Nun mobilisieren die politischen Vertreter der Russischsprachigen dagegen.

Auf lettischen Straßenschildern wurde nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit das Russische getilgt, die Letten hatten die sowjetische Phase als Zeit der Russifizierung erlebt, in der die eigene Sprache entwertet wurde, Foto: A. Kuzmins auf Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.5

Nach dem Ersten Weltkrieg beinhaltete die lettische Verfassung umfangreiche Rechte für ethnische Minderheiten. Deutschbalten, Russen und andere Volksgruppen konnten eigene Schulen gründen, in denen in der jeweiligen Muttersprache unterrichtet werden durfte. Solche Schulen haben sich bis heute erhalten und sind insbesondere für die große russischsprachige Minderheit bedeutsam. Allerdings schränkte der Gesetzgeber den Gebrauch der Minderheitensprachen an solchen Lehranstalten ein. Seit 2004 muss 60 Prozent des Unterrichts in lettischer Sprache erfolgen. Dieser Beschluss nach dem Geschmack der lettischen Mehrheitsgesellschaft entfachte den Unmut der russischsprachigen Minderheit und führte zu einer weiteren Entfremdung zwischen den ethnischen Gruppen.

Jener Minister, der damals die Schulreform ausarbeitete, ist nun wieder im selben Amt und möchte eine weitere Verschärfung durchsetzen. Sadursksis will in den kommenden Jahren Lettisch in den Vorschulen zum Standard machen. Die zentralen Abschlussprüfungen der Grund- und Mittelschulen sollen ausschließlich in lettischer Sprache erfolgen und ab der 7. Klasse 80 Prozent des Lehrstoffs auf Lettisch unterrichtet werden. Die Minderheitenschulen behalten dann noch das Recht, Lehrstunden zur eigenen Muttersprache, zur eigenen Kultur, Literatur und Geschichte anzubieten (lsm.lv). Mit dieser erneuten Verschärfung kommt der Vienotiba-Politiker den Koalitionspartnern der Nationalen Allianz entgegen, die die Minderheitenschulen am liebsten ganz abschaffen wollen (irir.lv). Beobachter kritisieren, dass manche Kinder und Jugendliche an russischsprachigen Schulen nach wie vor nicht hinreichend Lettisch lernen. Die Qualität des Lettischunterrichts sei unterschiedlich und auch von Kommune zu Kommune verschieden. Einen gesetzlich verordneten Übergang auf die lettische Sprache werten Befürworter als geeignete Maßnahme, um die russische Parallelgesellschaft aufzulösen und russischsprachige Einwohner besser zu integrieren. Kritiker hingegen sehen darin einen weiteren Assimilationsversuch, der zu neuen Abwehrreaktionen führen könnte.

Laut Cunka beteiligten sich 300-400 meist ältere Demonstranten an der Kundgebung. Sie hielten kyrillische Transparente hoch mit Aufschriften wie „Hände weg von russischen Schulen“. Die Partei Lettlands Russischer Bund (LRB) hatte den Protest organisiert. Dessen Mitvorsitzender Miroslav Mitrofanov zeigte sich zufrieden mit der Teilnehmerzahl und kündigte weitere Proteste an. Auch zwei EU-Abgeordnete zeigten Präsenz: der Saskana-Politiker Andrei Mamikin und LRB-Mitvorsitzende Tatjana Zdanoka. Die Demonstranten hatten vom Ministerium die Einladung zu einem Gespräch erhalten. Doch die Organisatoren lehnten ab. Allerdings hatte Sadurskis zuvor auch keine Vertreter der ethnischen Minderheiten in seine Planungen einbezogen, neben Russischsprachigen sind auch Schüler der polnischen und litauischen Minderheit betroffen.

Die Regierungskoalition besteht aus der Union der Grünen und Bauern (ZZS), Vienotiba und der Nationalen Allianz. Sie repräsentiert die Interessen der lettischen Mehrheitsbevölkerung. Die Vertreterin der russischsprachigen Minderheit, Saskana, wird als größte Fraktion der Saeima in der Opposition gehalten. Sadurskis wirft den Gegnern seiner Pläne vor, den Schülern der Minderheitenschulen zu schaden und sie absichtlich mit schwachen Lettischkenntnissen zu belassen. „Verschiedene Kräfte“ wünschten, dass sich die Jugendlichen jenseits der lettischen Medien informierten, „prorussische Kräfte“, die keine loyalen lettischen Bürger wollten. Der Minister wünscht sich, dass alle Bürger in einem Informationsraum leben. Es sei „unendlich naiv“ anzunehmen, dass aus Heranwachsenden eine geeinte Nation werde, wenn sie sich in unterschiedlichen Bildungsanstalten befinden (lsm.lv) .

Augusts Brigmanis ist ZZS-Parteimitglied und langjähriger Fraktionsvorsitzender in der Saeima. Er gab dem Fernsehsender LTV ein aufschlussreiches Interview (lsm.lv). Vor jeder Wahl – die nächste Saeima-Wahl findet voraussichtlich im Herbst 2018 statt – seien Nationalitätenfragen eine unschlagbare Karte. Damit könnten sich auf lettischer Seite die Nationale Allianz, auf russischer Seite die Saskana profilieren. Als Beispiele nannte er den jüngst gescheiterten Versuch, allen Neugeborenen automatisch die lettische Staatsbürgerschaft zu erteilen (LP: hier). Zudem wies Brigmanis auf die jüngsten Pläne aus dem Bildungsministerium hin. Das wird aber von Sadurskis geführt, einem Parteimitglied des dritten Koalitionspartners, der rechtsliberalen Vienotiba. Sein Vorhaben wird auch vom Staatspräsidenten Raimonds Vejonis und vom Ministerpräsidenten Maris Kucinskis begrüßt, die beide Parteifreunde von Brigmanis sind. So spielen alle Regierungsfraktionen die nationale Karte, nicht nur die an der Regierung ebenfalls beteiligte Nationale Allianz.

Wissenschaftler kommentieren einen gesetzlich verordneten Übergang auf die lettische Sprache skeptisch. Politologin Feliciana Rajevska sprach im Lettischen Radio von einer „Pseudoreform“, die von den wirklichen Problemen ablenke. Das sei dem Vorwahlkampf und dem Wettstreit mit anderen politischen Kräften geschuldet. Auch Kulturwissenschaftler Deniss Hanovs wertet das neue Sprachgerangel als Anzeichen des beginnenden Wahlkampfs. Es sei naiv zu glauben, dass Fragen, die die Muttersprache betreffen, nur die ethnische Mehrheit, also die Letten, aufregten. Diese Frage habe bereits vorher vermocht, Angehörige der ethnischen Minderheit auf die Straße zu bringen. Die Frage werde nun erneut benutzt. Hanovs ist der Ansicht, dass Politiker den ethnischen Minderheiten zuhören müssten und ihre Proteste weder als Loyalitätsverstoß noch als kremlgesteuert betrachten dürften. Schon nach der letzten Saeima-Wahl 2014 beklagte der Politologe Juris Rozenvalds, dass Parteien in Lettland gern die ethnische Karte ziehen. Statt Grundsatzdebatten um wesentliche soziale, wirtschaftliche und auch ökologische Fragen zu führen, schüren die Parteien den Sprachenstreit. Ein Wettbewerb um politische Ideen findet kaum statt, statt dessen herrscht politische Stagnation. (LP: hier)

 

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