Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Schlagzeilen des Eismonats 2010
22.01.2010


Winter in Ligatne (Vidzeme)Der Januar macht seinem altdeutschen Namen "Eismonat" alle Ehre: Die voreilig als gescheitert betrachteten Klima-Verhandlungen in Kopenhagen scheinen auf rätselhafte Weise einen Kälteschock in Europa verursacht zu haben. Für Lettland bedeutet dies eine knirschend eisige Witterung, also noch mehr Heizkosten bei verringertem Einkommen. Für die nächsten Tage sind Temperaturen bis zu Minus 30 Grad vorhergesagt. Das sind keine guten Aussichten für jene 17 Prozent der Letten, die nicht das Geld haben, ihre Wohnung genügend zu heizen. Immerhin ergeht es den Rentnern im neuen Jahr etwas besser: Die Verfassungsrichter haben geurteilt, dass die empfindliche Rentenkürzung, die die Regierung Dombrovskis im letzten Jahr beschlossen hatte, gesetzeswidrig ist. Nun muss die Regierung 185 Millionen Lats zurückerstatten, neue Verhandlungen mit dem IWF sind nötig. Das verursacht Streit in der Koalition und Debatten in der Saeima.
 
Lettland ist im Winter eine märchenhafte Schneelandschaft. Doch wer sie derzeit genießen will, muss sich warm anziehen. Foto: UB

Widerstandsplakat an einem Müllcontainer im Rigaer Stadtteil PurvciemsLettland – schon vor der Krise das Armenhaus der EU

Im Jahre 2008 war mehr als ein Viertel der lettischen Bevölkerung arm. 26 Prozent bezogen ein Einkommen, das trotz eventueller Sozialleistungen unterhalb der Armutsgrenze von 4400 Euro im Jahr blieb. Dies gaben die Statistiker der EU-Behörde Eurostat am 18.1.10 bekannt. Nach ihrer Auffassung ist derjenige arm, der weniger als 60 Prozent des Durchschnitts-Einkommens erhält, das in seinem Land erzielt wird. Lettland bildet somit das Schlusslicht der 27 EU-Länder. Sogar die Sorgenkinder Rumänien und Bulgarien erreichen mit 23 bzw. 21 Prozent leicht bessere Werte. Auch am anderen Ende der Tabelle zeigt sich Überraschendes: Das Land mit dem geringsten Armutsanteil ist weder Luxemburg noch das hier mit hinzugezählte Norwegen, sondern eines der `Neuen` der EU: Nur neun Prozent der Tschechen leben unterhalb der errechneten Armutsgrenze ihres Landes, das spricht für eine fairere Wohlstandsverteilung. Deutschland liegt mit 15 Prozent etwas günstiger als der EU-Durchschnitt von 17 Prozent. Die Deutschen benötigen 10600 Euro pro Jahr, um der Armut zu entkommen.

"Wir gegen Armut" steht auf dem Plakat. Foto: UB

Was für die Armen im allgemeinen zählt, gilt für die Senioren im besonderen. Bereits 2008, als die lettische Regierung noch nicht plante, die Renten zu kürzen, waren lettische Rentner die Ärmsten der EU. Altersarmut ist in Lettland kein Thema für die bisweilen zynische Werbung privater Rentenversicherer, sondern traurige Realität: 51 Prozent aller Senioren vegetieren unterhalb der Armutsschwelle. Falls sie nicht von ihren Verwandten unterstützt werden, können sie die alltäglichen Kosten zum Überleben kaum aufbringen.

Die Statistiker errechneten außerdem, was Armut in den einzelnen Ländern konkret bedeutet. Wie prekär ist die materielle Situation? Dazu ermittelten die Eurostat-Forscher die Rate materieller Benachteiligung. Offenbar können sich die Menschen in Bulgarien (51 Prozent), Rumänien (50) und Ungarn (37) noch weniger leisten als in Lettland (35). 17 Prozent der Letten haben nicht das Geld, um ihre Wohnung hinreichend zu beheizen, das ist ein kleinerer Anteil als in Portugal oder Bulgarien (jeweils 35), aber bei den hiesigen Winter-Temperaturen ist das schlimmer zu werten. Und 23 Prozent der Letten können sich nicht einmal jeden zweiten Tag ein besseres Essen mit Fleisch oder ein vergleichbares vegetarisches Gericht gönnen. Es ist zu befürchten, dass die Statistiker für 2009 noch bedrückendere Werte ermitteln werden.

UB

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So harmonisch feierlich wie die Fassade präsentieren sich die Parlamentarier selten.Abstimmung über Zusammenarbeit mit dem IWF offenbart Riss in der lettischen Koalitionsregierung

Die Saeima-Abgeordneten erteilten am 21.1.10 der Regierung Valdis Dombrovskis` die Vollmacht, weiter mit den internationalen Kreditgebern zu verhandeln. Seit Ende 2008 ist Lettland auf einen Kredit in Höhe von 7,5 Milliarden Euro angewiesen, die der Internationale Währungsfonds (IWF), die EU und skandinavische Länder in mehreren Raten überweisen. Der Premier und seine Minister treffen sich mit IWF-Vertretern, um Sparmaßnahmen oder Steuererhöhungen zu beschließen. Kritiker bemängeln, dass bislang die Öffentlichkeit nach den geheimen Verhandlungen vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Eine solche war die empfindliche Rentenkürzung des letzten Sommers, die die Verfassungsrichter Ende Dezember für ungültig erklärten. Nun fehlen weitere 185 Millionen Lats (261 Millionen Euro) im Staatsbudget. Deshalb sind weitere Treffen mit dem IWF notwendig. Die Richter forderten in ihrem Urteil auch, die Parlamentarier stärker in die Verhandlungen einzubeziehen.

Das lettische Parlamentsgebäude bei Nacht, Foto: UB

Nach Angaben des Webportals delfi.lv stimmten 54 Parlamentarier, unter ihnen auch das oppositionelle libaralkonservative Parteienbündnis LPP/LC Latvijas Pirmā partija/ Latvijas Ceļš (Lettlands Erste Partei/ Lettlands Weg) und einige Fraktionslose für den eingebrachten Regierungsbeschluss. Das größte Oppositionsbündnis, das linksgerichtete Saskaņas Centrs (Zentrum der Eintracht) blieb der Abstimmung fern. Einen Tag zuvor hatte Centrs-Fraktionsvorsitzender Jānis Urbanovičs in der TV-Sendung Kas notiek Latvijā Verständnis für die Zwangslage der Regierung geäußert: “Wenn das Geld nun einmal angenommen worden ist, ist alles zu tun, um dem Staat keine Schande zu machen.” Dabei kritisierte er allerdings, dass die Koalitionspolitiker die Abgeordneten als eine “Hammelherde” betrachteten, der man geheim gehaltene Dokumente vorenthalte.

Dombrovskis` Kabinett benötigte die Hilfe der Opposition, weil die Abgeordneten des Koalitionsmitglieds Tautas partija (TP, Volkspartei) gegen die eigene Regierung stimmten. Am Anfang dieser Legislaturperiode, als diese Partei noch den Regierungschef stellte, hatte sich eine hausgemachte Blasenökonomie entwickelt. Sie platzte im Sog der internationalen Finanzkrise. Nun bangen die TP-Politiker, ob ihre Partei bei den nächsten Wahlen noch die Fünf-Prozent-Hürde überspringen kann.

TP-Fraktionsvorsitzende Vineta Mui?niece zeigte sich unzufrieden mit der neuen Regierungsvorlage, die sich von der vorangegangenen nur unwesentlich unterscheide und die Forderung der Verfassungsrichter wiederum nicht erfülle. Sie schlug vor, einen neuen Entwurf zu verabschieden, der von allen Saeima-Mitgliedern akzeptiert werden könne. Ihre Fraktion hatte den eigenen Antrag zurückgezogen, der vorsah, die Vollmacht mit einem Veto-Recht der Parlamentarier gegen Steuerhöhungen zu verbinden.

Zuvor hatte Regierungschef Dombrovskis in dieser außerordentlichen Sitzung erklärt, dass mit diesem Beschluss noch keine konkreten Steuererhöhungen verbunden seien. Außerdem versprach der Premier, die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament bezüglich der IWF-Verhandlungen zu regeln.

UB

Externer Linkhinweis:

delfi.lv: Bericht zur Parlamentsdebatte (lettisch)


Und noch eine Spitzenreiterposition: Die Letten sind die führenden Parteienskeptiker


Nun ist es Ermessenssache des sensationsheischenden Journalismus`, ob man aus den nüchternen Daten der Statistiker den geringsten bzw. höchsten Wert, den Tabellenführer oder das Schlusslicht herausliest. Also formulieren wir positiv: Die Letten sind innerhalb der EU führend, was die Parteienskepsis betrifft. Die lettische Nachrichtenagentur LETA publizierte am 21.1.09 Zahlen der regelmäßigen Umfrage Eurobarometer Standard, mit der die EU halbjährlich die Stimmungslage ihrer Bürger erforscht. Demnach haben 95 Prozent der lettischen Bürger kein Vertrauen zu ihren Parteien. Das ist der Spitzenwert aller 27 EU-Länder. Aber auch insgesamt ist das Vertrauen der Europäer in Parteien begrenzt: Der Mittelwert liegt bereits bei 79 Prozent. Gegenüber ihren Parlamenten und Regierungen äußerten sich die Befragten noch skeptischer.

UB

Externer Linkhinweis:

delfi.lv: LETA-Artikel zur lettischen Parteienskepsis (lettisch)





 
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