Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Lettland: Die Klimaerwärmung macht den Vögeln zu schaffen
01.10.2021


Der Abschied von manchem Zugvogel könnte endgültig sein

Noch singt die Nachtigall, die eigentlich ein Mann ist, Foto: Von Frebeck, Eigenes Werk CC BY-SA 3.0, Link

Der September war die Zeit des Abschieds, nicht nur von der Wärme und den hellen Tagen, auch von manchen gefiederten Freundinnen und Freunden. Dann sieht man am lettischen Himmel die Flugformationen von Kranichen und Gänsen. Dann lässt sich mit Ingeborg Bachmann wehmütig feststellen: "Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont." Kraniche und Gänse reagieren auf niedriger werdende Temperaturen, andere Zugvögel auf vermindertes Tageslicht, erklärt Oskars Keiss, Leiter des Ornithologischen Laboratoriums der Lettischen Universität (lsm.lv). Über rührende Empfindungen lässt sich kräftig und unbarmherzig spotten; frei nach Heinrich Heine könnte man dem Schmachtenden zurufen, munter zu bleiben, weil es doch ein altes Stück sei: Im Herbst fliegen sie von dannen und kehren im Frühjahr zurück. Doch in heutiger Zeit hat der Schmerz der Vogelfreunde eine weniger sentimentale Komponente: Die Eingriffe des Menschen in die Natur hat Folgen für das Leben und Überleben vieler Vogelarten; ob alle zurückkehren, bleibt ungewiss.


Am 26. September 2021 entdeckte eine Vogelfreundin einen grau-braun gefleckten Strandläufer an Jurmalas Küste, sie fotografierte ihn und lud das Bild auf dabasdati.lv hoch. Es stellte sich heraus, dass es sich um den Großen Knutt handelte, der auf Lettisch Garknabja snibitis und auf Lateinisch Calidris tenuirostris heißt. Es ist das erste Mal, dass dieser Vogel in der baltischen Region entdeckt wurde. Eigentlich ist dieser Knutt im Norden Ostsibiriens beheimatet und überwintert in Südostasien oder Australien. Wahrscheinlich ist er nur ein Irrgast, den Ornithologen immer mal wieder beobachten und nicht der Vorbote einer Knutt-Invasion, die andere Arten bedrohen könnte.


Bedenklicher stimmt schon eine Meldung über das Schicksal einer Jungeule, die Spaziergänger in Liepaja am Jahresanfang fanden (lsm.lv). Sie war aus dem Nest gefallen, die Passanten brachten sie in eine Veterinärklinik. Die Vogelfreunde wunderten sich über dieses zu frühe Schlüpfen aus dem Ei. Die Autoren der TV-Sendung "Vides Fakti" stellten dazu fest: "Das Ei wurde schon im Januar gelegt, der Vogel selbst schlüpfte bereits im Februar – zu früh kümmerte sich die Eule um den Nachwuchs. Es gibt keine wirkliche Klarheit darüber, wie ein Eulenjunges, das weder fliegen noch laufen kann, auf den Boden gelangt. Möglicherweise beschloss die Mutter, sich von ihm zu befreien oder es wurde von einem Raben aus dem Nest gestoßen." Der Rainis-Park von Liepaja ist wegen seiner alten Bäume ein beliebter Nistplatz. Doch Jungeulen werden hier normalerweise frühestens ab Mitte März gesichtet. Ornithologe Karlis Millers sieht einen Zusammenhang mit den Wintern, die auch in Lettland ständig milder werden: "Tatsächlich galt das lange Zeit nicht als Abweichung von der Norm angesichts unserer Wetterumstände, darunter solch einen Winter, wie wir ihn hatten oder sogar weniger ausgeprägt. Die milden Winter mit kurzen Kälteperioden und wenig Schnee veranlassen definitiv Waldeulen, die in der Nähe des Menschen leben, im Januar zu nisten. Man kann es auch von einem anderen Standpunkt betrachten: als Klimawandel. Die Winter werden kürzer, die Winter bleiben milder."


Die Journalisten von Vides Fakti befragten Viesturs Keris, Vorsitzender der Ornithologischen Gesellschaft Lettlands, wie sich die Klimaveränderungen auf die Vogelwelt auswirken (lsm.lv). Die höheren Temperaturen könnten das seit Jahrtausenden und Jahrmillionen eingeübte zeitliche Zusammenspiel zwischen Lebewesen aus dem Takt bringen und ihre Existenz gefährden, wenn sich z.B. die Brutzeiten verändern und nicht mehr mit der Zeit des größten Nahrungsangebots übereinstimmen. Zudem begünstigt der Klimawandel die Ausbreitung südlicher Vogelarten in den Norden, während Vögeln des Nordens die Rückzugsgebiete fehlen.  


Kerus sieht im Zugvogel, der weite Routen bis Afrika oder Südasien zurücklegen muss, einen weiteren Verlierer: "Die Trockenheit, die Ausbreitung der Sahara erschwert diesem Vogel die ohnehin beschwerliche Reise an die nördlichen Plätze und zurück. Dagegen sind Zugvögel, die nur geringe Entfernungen zurücklegen und Standvögel die Gewinner, denn die, die hiergeblieben sind, um zu überleben, bereiten den Fernzugvögeln eine größere Konkurrenz."  


Der Klimawandel wirkt sich auf das Nahrungsangebot für die Rückkehrer im Frühjahr aus, Kerus beschreibt die Gefahr austrocknender Auenlandschaften: "Wenn es wärmer wird, wird kein Schnee fallen, gefriert das Wasser nicht und es bilden sich keine Feuchtgebiete, damit schwinden die Nahrungsangebote." Der Ornithologe beobachtet weniger werdende Frühjahrsüberschwemmungen in der lettischen Natur, betroffen sind Gegenden wie das Feuchtgebiet Svetes Paliene bei Jelgava, das für die Vögel eine wichtige Futterquelle darstellt.


Die Auswirkungen sind bereits sichtbar. Die Vogelpopulationen verringern sich. Bei Hasel- und Moorschneehühnern beobachteten Vogelkundler einen Rückgang um 90 Prozent. Gefährdet ist auch die Nachtigall, die ich wegen ihrer besonderen Sangeskunst als die Lettin unter den Vögeln bezeichnen möchte - hier steht das grammatische Gechlecht der gendergerechten Sprache im Wege, denn nur das Nachtigall-Männchen singt. Ornithologen prognostizieren, dass der kleine Fernzugvogel bei weiter steigenden Temperaturen noch deutlich weitere Strecken zurücklegen müsste, das könnte für ihn und die ganze Population tödlich enden.


Sintija Martinsone, eine Vertreterin der lettischen Umweltschutzbehörde, macht einen anderen menschlichen Eingriff in die Natur für das Elend der Vögel verantwortlich: "Alte Wälder sind Lebensräume für seltene und schwindende Vogelarten. Die kann man nicht durch neue ersetzen, in denen die Bäume ein bestimmtes Alter noch nicht erreicht haben und für das Nisten dieser Arten ungeeignet sind. Das kann sich sehr negativ auf die Artenpopulation auswirken." Umweltschützer beklagen, dass Forstbetriebe sogar in geschützten Bereichen Bäume fällen und somit Nester zerstören. Da möchte man es angesichts des grauen Oktobers mit Bachmann statt mit Heine halten und wiederholen: "Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont." 

UB 




 
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