Belarussisches Atomkraftwerk liefert seit dem 3. November 2020 Strom
10.11.2020
Die baltischen Nachbarn protestieren - Medien berichten von einem ersten Zwischenfall Baltische Medien berichten mit Bezug auf das belarussische Webportal Tut.by, dass sich auf dem Gelände des gerade in Betrieb genommenen Atomkraftwerks Astrawez schon ein Zwischenfall ereignet habe und der Meiler seit Sonntag, dem 8. November 2020, keinen Strom liefere. Mess-Transformatoren außerhalb des Reaktorbereichs seien explodiert. Laut einer Meldung des litauischen Webportals Ltr.lt verlautbarte das belarussische Energieministerium einen Tag danach, dass der Austausch spezieller elektrotechnischer Messeinrichtungen erforderlich sei. Die staatliche belarussische Nachrichtenagentur Deu.belta.by verkündete, dass alle Systeme des Kraftwerks “normal” funktionierten. Der erste Block der Anlage war erst am Samstag nach siebenjähriger Bauzeit in Betrieb genommen worden. Präsident Alexander Lukaschenko war zur Feierstunde anwesend und bezeichnete den Akw-Start als einen historischen Moment, in dem Belarus zu einer atomaren Großmacht werde und einen neuen Schritt in die Zukunft für mehr Energiesicherheit unternehme. Der belarussische Oppositionelle Andrei Sannikau bezeichnete Astrawez dagegen auf Twitter als “geopolitische Waffe” in den Händen Lukaschenkos und des Kremls gegen die EU und als “radioaktive Bedrohung” für Belarus und Europa. Das russische Unternehmen Atomstroiexport ist mit der Errichtung des Meilers vom Typ WWER-1200 beauftragt, dessen zweiter Block im nächsten Jahr fertiggestellt werden soll. Russland finanziert das Projekt mit einem Milliardenkredit. Die Litauer, deren Hauptstadt kaum 50 Kilometer vom Akw entfernt liegt, protestieren und haben den Boykott belarussischer Stromimporte beschlossen. Lukaschenko behauptet wiederum, dass die litauische Regierung auf Druck des Westens handele, der Konkurrenz auf dem Energiemarkt verhindern wolle: “Der Westen will kein Atomkraftwerk in Belarus, der Westen braucht auch kein friedliches Belarus,” zitiert Deu.belta.by.
Akw Astrawez, Foto: CC BY-SA 4.0, Link
Das Akw liegt knapp 50 Kilometer von der litauischen Hauptstadt Vilnius und weniger als 300 Kilometer von Riga entfernt. Im schlimmsten Fall, einem atomaren GAU bei Ostwind, könnten radioaktive Niederschläge beide Hauptstädte kontaminieren. Die Einwohner von Vilnius müssten zum Teil evakuiert werden. Sollte verseuchtes Kühlwasser in die Neris gelangen, wäre die Trinkwasserversorgung gefährdet, denn es erreichte einen halben Tag später die litauische Metropole, in der eine halbe Million Menschen leben. Die litauischen Behörden verteilen bereits Jodtabletten und lassen Evakuierungen proben. Die litauische Aufsichtsbehörde VATESI bemängelt, dass die Akw-Betreiber auf Fragen und Empfehlungen der EU-Energieexperten nur teilweise reagiert hätten. (lrt.lt)
Die Litauer appellierten seit längerer Zeit an den lettischen Nachbarn, sich bei der Inbetriebnahme des Akw dem Boykott anzuschließen. Aber die lettische Regierung hat lange gezögert und zeigt sich erst seit den Protesten gegen die umstrittene Wiederwahl Lukaschenkos dazu bereit. Die baltischen Länder sind mit Russland und Belarus durch BLERR, einem Stromnetz aus sowjetischer Zeit, verbunden. Litauen importierte, nachdem es 2009 das eigene Akw in Ignalina abschaltete, Strom aus den ehemaligen sowjetischen Bruderländern, ebenso wie Lettland, das seinen Bedarf mit den Daugava-Kraftwerken nicht vollständig abdeckt. Doch inzwischen bezieht der litauische Energieversorger Litgrid den größten Teil seiner Stromimporte aus Schweden und ist auf Lieferungen aus Belorus kaum noch angewiesen.
Das lettische Wirtschaftsministerium will zwar keinen Strom mehr aus Belorus importieren lassen, möchte aber fortan auf Russland ausweichen (lsm.lv). Die russischen Geschäftspartner sollen garantieren, dass der Strom nicht aus Belarus stamme. Ein physikalischer Nachweis ist im Stromverbund der Länder natürlich nicht möglich, aber die Letten wollen verhindern, dass die Gebühren der Stromverbraucher auf belarussische Konten überwiesen werden. Den Litauern scheint das lettische Vorgehen halbherzig. Das Geschäft könnten sie den Akw-Betreibern dennoch verderben. Wenn Atomstrom gen Westen geliefert werden soll, müsste er durch das litauische Stromnetz fließen, das für Belarus nun gesperrt ist. Bis 2025 planen die baltischen Länder, sich von BLERR zu trennen und sich mit EU-Fördermitteln dem Stromverbund der westlichen EU-Nachbarn anzuschließen.
Im Akw Astrawez ist übrigens auch in Deutschland hergestellte Technik zu finden: Rolls-Royce-Tochter MTU in Friedrichshafen lieferte den Belorussen zehn Diesel-Notaggregate (mtu-solutions.com).
Atpakaï