Bislang etwa 9000 ukrainische Kriegsflüchtlinge von Lettland aufgenommen
31.03.2022
Willkommenskultur für Ukrainerinnen
Krieg in Schachtarsk, Ukraine, Foto: icorpus CC BY 3.0, Link
Lettinnen und Letten zeigen sich solidarisch mit der Ukraine. In Riga sind mehr gelb-blaue als rot-weiß-rote Fahnen zu sehen. Künstler organisieren Benefizkonzerte. Manche ziehen sogar an der Seite der Ukrainer in den Krieg. Die Solidarität zeigt sich vor allem in der Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge. Etwa 9000 haben lettische Behörden bislang registriert. Innenministerin Marija Golubeva ist zuversichtlich, dass Lettland die Obdachsuchenden hinreichend versorgen kann. Doch der plötzliche Organisationsbedarf bereitet Behörden und Kommunen auch Probleme.
Da ukrainische Grenzbeamte Männer bis 60 Jahren nicht ausreisen lassen, erreichen vorwiegend Frauen und Kinder die lettische Landesgrenze. Sie müssen kein Asyl beantragen; es reicht, wenn sie ein Dokument vorweisen, das ihre ukrainische Staatsbürgerschaft dokumentiert, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Diese sei ein Jahr gültig und könne verlängert werden, erläuterte Golubeva am 29. März 2022 in einer Pressekonferenz (lsm.lv). Die Kommunen sind für die Unterbringung und Verpflegung zuständig, bislang gelang es ihnen, etwa 5000 unterzubringen. 90 Tage lang haben die Geflüchteten Anspruch auf Versorgung, danach sollen sie eine Arbeit finden. Zudem beschloss der Gesetzgeber, den Betroffenen ein Startgeld in Höhe von 500 Euro auszuzahlen und ihnen freies Fahren im öffentlichen Nahverkehr zu gewähren (lsm.lv). Auch das private Engagement ist groß. Letten stellen Privatunterkünfte zur Verfügung, arbeiten in Flüchtlingsinitiativen mit, spenden, manche stellten sogar ihr Auto zur Verfügung, damit es in der Ukraine verwendet werden kann.
Golubeva ist zuversichtlich, dass Lettland weitere ukrainische Kriegsflüchtlinge aufnehmen kann. Ihr Staatsekretär Dimitrjs Trofimovs warnt aber vor organisatorischen Problemen für die Kommunen und fordert Beschlüsse, um die Lage dem steigenden Bedarf anzupassen (lsm.lv). Er spricht schon von 10000 Geflüchteten, die sich in Lettland aufhalten: “Gewiss wird mit steigender Personenzahl auch das Komfortniveau und der Unterstützungsumfang bei der Unterbringung reduziert werden müssen. Es ist klar, dass wir bei größeren Menschengruppen nicht mehr dasselbe anbieten können wie derzeit.” Trofimovs will zum Beispiel die zulässige Bettenzahl in Unterkünften erhöhen.
Zudem ist der Aufenthalt nach 90 Tagen nicht gesichert, wenn Ukrainer keine Erwerbstätigkeit finden. Dace Gaile, Vertreterin des Wirtschaftministeriums, geht davon aus, dass die Betroffenen eine “Lösung” finden werden, “dass sie hier genauso leben wie alle lettischen Einwohner und entsprechende Unterstützung und Sozialleistungen erhalten”. Bei fast der Hälfte geht es nicht um Arbeit, sondern um Kindergarten- und Schulbesuch: 4000 Kinder zwischen 2 und 18 Jahren sind angekommen, zudem etwa 500 Kleinkinder unter zwei Jahren. Derzeit bereitet es den Schulbehörden Rigas und des Umlandes Probleme, sie in Schulen zu vermitteln, weil sie bereits ausgelastet sind. Die Pädagoginnen müssen traumatisierte Kleinkinder betreuen. Die Leiterin eines Kinderhorts in Salaspils beschrieb die Angst eines solchen Kindes, das verängstigt und eingeschüchtert ist und den anderen erzählte, dass es aus einem fremden Land komme, wo es schrecklich sei, wo er in den Keller geflohen sei.
Reservierter verhält sich Golubeva zu Geflüchteten aus Russland (lsm.lv). Sie müssen das Asylverfahren durchstehen, wobei in Lettland 2020 bei etwa einem Dutzend russischen Asylanträgen die Aufnahmequote Null Prozent betrug (laenderdateninfo.de). Inzwischen könnte sich die Zahl der Anträge deutlich vermehren, weil seit dem Angriffskrieg Russen ihr Land verlassen. Die Ministerin erwägt zwar, Russinnen oder Russen, die in ihrem Land verfolgt werden, beispielsweise als oppositionelle Journalisten, den Aufenthalt zu gestatten; wirtschaftliche Erwägungen, die zur Flucht führen, akzeptiert sie aber nicht. Die Weigerung, dem Einberufungsbefehl in die russische Armee zu folgen, stellt für sie ebenfalls kein Asylgrund dar. Das ist beachtenswert, denn für lettische Staatsbürger ist es strafbar, wenn sie sich beispielsweise im Donbass an den Kämpfen auf prorussischer Seite beteiligen (leta.lv).
Ein weiterer Wermutstropfen sind die doppelten Standards für Flüchtlinge. Während sich Lettland für Ukrainerinnen und ihre Kinder selbst zur Willkommenskultur entwickelt, bleiben für Notleidende aus anderen Weltregionen Stacheldraht an den Außengrenzen und Abschiebung Alltag. Immer noch berichten die Medien von “illegalen” Grenzübertritten aus Belarus (lsm.lv). Seitdem das Nachbarland ankündigte, keine Flüchtlinge mehr zurückzuhalten, wurden von den Grenzbehörden bislang etwa 6500 “Grenzverletzer” vorwiegend aus dem arabischen Raum gezählt. Darunter haben es manche wahrscheinlich mehrmals versucht und sind mehrmals gezählt worden. Die Presse nennt das Betreten lettischen Territoriums “illegal”; aber der lettische Gesetzgeber verstieß mit dem erklärten Ausnahmezustand in den Grenzregionen zu Belarus selbst gegen internationales Recht, weil die Grenzbehörden sich weigerten, Asylanträge anzunehmen. Die meisten Geflüchteten, die in Lettland um Aufnahme bitten, kommen aus dem Irak, in dem die Bevölkerung seit dem Angriffskrieg der USA 2003 ebenfalls in Not und Elend lebt. Die “Koalition der Willigen”, unter ihnen die lettische Armee, war am Irakkrieg beteiligt.
UB
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