Lettische Kunstausstellungen im Juni 2021
17.06.2021
Kulturrevolution und endloses Feiern
Dagnija: Die Karmeliterin, Foto: LNMM,
Allmählich entkommen die lettischen Museen der Pandemiestarre und kündigen neue Ausstellungen an. Die Besucherinnen und Besucher sollten sich dennoch weiterhin auf der Webseite des Lettischen Nationalen Kunstmuseums informieren, unter welchen Bedingungen ein Besuch möglich ist und ob man sich zuvor anmelden muss (lnmm.lv). Aktuelle Ausstellungen thematisieren zeitgeschichtliche Bezüge: Das Leben Daina Dagnijas in den USA zeigt, dass eine Künstlerin noch in den 60er und 70er Jahren, als sich westliche Gesellschaften emanzipierten, in ihrer männerdominierten Branche weiterhin um Anerkennung ringen musste. In der Zwischenkriegszeit überfiel die Menschheit eine große Feierlaune. Im protestantischen Lettland vergnügte man sich damals sogar mit Karneval. Künstler entdeckten die Figuren der Commedia dell`Arte und interpretierten sie in ambivalenter Weise. Eine Ausstellung im Museum Rigaer Börse zeigt, wie Glaskunst zur Zusammenarbeit anregt und wie dieser Werkstoff genutzt werden kann, um sich aktuelle Fragen zu stellen. Hier die Zusammenfassung aus den PR-Texten lettischer Kunstmuseen für den Monat Juni.
„Du malst so gut wie ein Mann“ - Die Kunst Daina Dagnijas im feministischen Kontext
Lettisches Nationales Kunstmuseum, Hauptgebäude, 2. Etage, rechter Flügel, Jana Rozentala Laukums 1, Riga, bis 19.9.21
Vor zwei Jahren starb die Künstlerin, deren bewegtes Leben in Lettland kaum bekannt ist. Am Kriegsende floh sie mit den Eltern als Siebenjährige vor dem Stalin-Regime nach Deutschland, wo sie sieben Jahre in einem Flüchtlingslager verbrachte. 1951 emigrierte die Familie in die USA. Dort qualifizierte sich Dagnija an verschiedenen Kunstschulen, unter anderem an der renommierten Arts Students League von New York, in der sich die Studierenden den künstlerischen Ausdruck außerhalb des akademischen Betriebs selbst beibrachten.
Dagnija war aktiver Teil der kulturellen Revolution jener Zeit, mitten im Hotspot USA: Sozialer Wandel, Menschenrechtsbewegungen, Antikriegsproteste, ökologisches Aufwachen und Feminismus bestimmten die Themen ihrer Bilder. In den Interviews betonte sie die gesellschaftspolitische Bedeutung ihrer Arbeit: „Ich male die Gesellschaft, in der ich lebe.“ Sie war Zeitzeugin neuer Phänomene: Hippie-Kultur, individuelle Freiheiten, freie Liebe, Pazifismus, naturnahe Philosophie - die Ideale und Verhaltensnormen änderten sich rapide. New York war ein Zentrum dieser Erschütterungen: Dort beobachtete Dagnija die Demonstrationen. Sie nahm am Frauenkomitee für Kunst (Women`s Caucus for Art) teil, an dessen Ausstellungen und Aktionen.
Trotz des raschen Wandels hielt sich das Patriarchat und Dagnija musste des öfteren das fragwürdige Lob vernehmen: „Du malst so gut wie ein Mann!“ Dieser Spruch provozierte feministische Debatten. Dagnija berichtete davon, dass es auch in dieser Zeit allgemeiner Emanzipation für eine Frau schwer blieb, sich als Künstlerin zu betätigen.
Kuratorin Elita Ansone: “Obwohl man in der Chronologie des Weltfeminismus` schon die vierte Welle analysiert und in der Theorie des Westens alle Stadien des Feminismus` seit mehr als 100 Jahren beschrieben und erörtert werden, existieren in der lettischen Gesellschaft weiterhin viele Vorurteile und Unwissen über den Feminismus. Daina Dagnijas Malerei bietet der breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich über die Geschichte und Eigenart dieser Bewegung in verständlicher Weise zu unterhalten.”
Harlekin und Pierrot: Ewiges Fest, der Geist der Zwischenkriegszeit, Gestalten der Commedia dell`Arte in der lettischen Moderne. Lettische Künstler veranstalten Karneval: Fotos und Kostüme aus der Sammlung von Aleksandrs Vasiljevs
Romans-Suta-und-Aleksandra-Belcova-Museum, Elizabetes iela 57a, Wohnung 26 (Eingang über den Hof, 5. Etage), bis 22.1.22
Kuratorin Natalja Jevsejeva meint zur Ausstellung: “Wenn man die Presse aus jener Zeit liest, sowohl die lettische als auch die ausländische, hat man den Eindruck, dass die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts eine ununterbrochene Fete, eine lange Party zwischen zwei großen Kriegen war.” Nachdem die Waffen endlich schwiegen, überkam die Menschheit eine große Lebenslust, trotz spanischer Grippe, die damals mehr Opfer forderte als die heutige Corona-Epidemie.
So wurde viel gefeiert. Feten und Tanzabende ließen das große Schlachten vergessen. Dichter Jean Cocteau beschrieb die Zwischenkriegszeit wie einen langen 14. Juli, den Nationalfeiertag Frankreichs. Auch in Lettland verstand man sich aufs Feiern: Korporationen und Künstlergruppen organisierten sogar etwas, das recht untypisch ist für protestantische Gefilde: den Karneval.
In den zwanziger Jahren veranstalteten Rigaer Künstler Karneval zu Themen wie “Nacht im Quartier Latin”, “Benediktinerkloster” oder “Schloss Sumpurni”, außerdem surreal erscheinende Feten wie ein Pariser “Transmentaler Ball” oder “Banaler Ball”. Die Ausstellung illustriert solche Happenings mit Originalfotos, Reproduktionen; auch getragene Kostüme aus der Sammlung des Modehistorikers Aleksandrs Vasiljevs sind zu betrachten.
Fotos und Presseberichte künden davon, wie populär Kostüme in jener Zeit waren, die Figuren aus der alten Commedia dell`Arte Italiens darstellten: Pierrot, Harlekin oder Colombina. Solche und viele weitere Figuren trugen Masken des Vergnügens, nicht der Gesundheit wegen. Die Commedia dell`Arte Venedigs und Neapels war derb und volksnah. Sie verdarb es sich mit den vernunftorientierten Theaterkritikern und Machthabern des 18. Jahrhunderts und verschwand schließlich von den Bühnen. Das Personal dieses Volkstheaters hat eine lange Geschichte und ihre Charaktere sind symbolhaft. Die Künstler des letzten Jahrhunderts wie Henry Matisse oder Marc Chagall entdeckten sie wieder.
Kuratorin Natalja Jevsejeva: “Der witzige und scharfsinnige Harlekin und der gutherzige, melancholische Pierrot symbolisieren in künstlerischen Arbeiten häufig die tragische Wahrnehmung der Welt, doch die Zwischenkriegszeit verleiht ihnen eine neue Stimmung, die allegorisch den Pessismus der `verlorenen Generation` verkörpert. Dieser widersprüchliche Symbolismus der Bilder entspricht weitgehend der Ambivalenz des Art-Deco-Stils und der Natur der Kunst in der Zwischenkriegszeit, die durch die Vereinigung der Wiedergeburt klassischer Traditionen mit dem modernistischen Radikalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt ist, dem Verlangen nach Vergnügen und den enttäuschten Idealen. Die lettischen Modernisten reihen sich mit ihren Werken hinsichtlich dieser Bedeutung in aktuelle Tendenzen ein.”
Die Stimme des Glases. Zusammenarbeit. Internationale Kunstausstellung
Kunstmuseum Rigas Birza, Großer Ausstellungssaal, Doma Laukums 6, Riga, bis 1.8.21
Der Werkstoff Glas veranlasst Menschen aus unterschiedlichen Berufen zur Zusammenarbeit. Er beschäftigt traditionelle Kunsthandwerker ebenso wie Wissenschaftler, Anthropologen, Historiker, Fotografen, Komponisten oder sogar Extremsportler und ermöglicht deren Zusammenarbeit. Das scheint den Kuratorinnen besonders zur Pandemiezeit von aktueller Bedeutung zu sein. Die zwölf Künstlerinnen und Künstler aus den baltischen Ländern, Schweden, USA, China, Japan, Südkorea und Indien kooperierten auf diese Weise. Ihre Werke verdeutlichen den Zusammenhang von öffentlichem und privaten Raum, von Kommunikation und enschlicher Interaktion, erinnern an vergangene Kulturzeugnisse in der modernen Welt. Anna Norberg aus Schweden zum Beispiel aktualisiert das Verhältnis zwischen schwedischen und lettischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Jin Hongo arbeitete mit lettischen Künstlern zusammen, um mit Glaskunst über die Grenzen der Freiheit nachzudenken. Inguna Audere und der US-Amerikaner Michael Rogers widmen ihre Arbeit tatsächlich einer hochaktuellen Angelegenheit: Sie beobachteten, dass es keine komplizierteren Gespräche gibt als zwischen Menschen, die unterschiedliche Wahrnehmungen haben und sie appellieren, den Wert wechselseitiger Kommunikation zu begreifen.
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