Lettische Regierung plant kostenlose Regionalbuslinien einzuführen
09.07.2021
Ökosoziale Maßnahme oder Mogelpackung?
Der Rigaer Busbahnhof, Foto: Papuass, Martins Brunenieks, Pasa darbs, CC BY-SA 4.0, Saite
Busfahren ohne Ticket gilt fast überall als Schwarzfahren, das teuer zu stehen kommen kann. Nicht wenige städtische Verkehrsbetriebe verlangen derart gepfefferte Fahrpreise, dass sich Geringverdienende diesen öffentlichen Service kaum leisten können. Doch in einigen Städten und Regionen wurde ein für die Passagiere kostenloser öffentlicher Transport bereits erprobt. Den Anfang machte im Jahr 1997 die belgische Stadt Hasselt, nachdem dem Kämmerer der Kommune bewusst wurde, dass es budgetschonender war, die Menschen gebührenfrei mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt zu bringen als weiteren Parkraum für Autos zu finanzieren. Auch bei den estnischen Nachbarn der Letten ist das Konzept bekannt: In der Hauptstadt Tallinn können die Einwohner (nicht die Touristen) das Angebot des örtlichen Verkehrsbetriebs seit 2013 ohne Fahrschein nutzen. In Deutschland bietet das rheinische Monheim den Bürgern das öffentliche Busfahren für lau an; im brandenburgischen Templin scheiterte das Experiment allerdings aufgrund zu hoher Kosten für die Kommune. In einer Zeit des ökologischen Wandels und der sozialen Spannungen zwischen den ärmer und wohlhabender werdenden Teilen der Bevölkerung könnte das Konzept eines öffentlichen Transports, der nicht vom Geldbeutel des einzelnen abhängt, eine Lösung für allgemeine Mobilität darstellen. Die lettische Regierung hat am 6. Juli 2021 beschlossen, ab Herbst auf 20 Regiobuslinien den Passagieren die Fahrt ohne Fahrschein anzubieten.
In einer Presseerklärung desselben Tages stellt das Verkehrsministerium seinen Plan vor: Die staatliche Straßenverkehrsdirektion ATD soll nach den Daten des Vor-Corona-Jahres 2019 zwanzig Regio-Buslinien auswählen, auf denen der gebührenfreie Transport getestet werden kann. Dabei soll sich die ATD an folgende Kriterien halten: Die Region, durch die die Linie führt, soll nur mit weniger als vier Bewohnern pro Quadratkilometer besiedelt sein. Die Buslinie in einer solchen Gegend stellt die einzige Möglichkeit dar, öffentlichen Verkehr zu nutzen und der Bus fährt nur höchstens sechs mal am Tag. Zudem decken die Ticketeinnahmen auf dieser Strecke nur 15 Prozent der gesamten Kosten, um diese Busverbindung zu betreiben (lvportals.lv). Das Angebot richtet sich also an Menschen in schwach besiedelten Regionen, wo der Weg zum nächsten Lebensmittelgeschäft kaum zu Fuß zu bewerkstelligen ist, zugleich aber die Einkommen meistens derart gering sind, dass sich ein Auto kaum finanzieren lässt. Eine gebührenfreie Transportmöglichkeit könnte also weitere Landflucht stoppen bzw. verzögern.
Gegenüber LSM erläuterte Verkehrsminister Talis Linkaits (Jauna Konservativa Partija) seinen Plan: “Unser Ziel ist es, dass Menschen immer öfter den öffentlichen Transport nutzen. Eines der Elemente in diesem Fördersystem ist auch der kostenlose Transport in die entlegenen Gebiete Lettlands. Wir nehmen auch an, dass für bestimmte lettische Einwohner der Fahrpreis ein wichtiger Grund ist, ob sie den öffentlichen Transport nutzen oder nicht.” Allerdings sieht Linkaits in diesem Angebot eher die Ausnahme als die Regel. “Völlig gebührenfreier Transport hält viele Menschen davon ab, öffentlichen Verkehr dieser Art zu nutzen. Sowohl wissenschaftliche Forschung als auch das Beispiel Tallinn, wo der gebührenfreie öffentliche Nahverkehr eingeführt wurde, deuten nicht darauf hin, dass jene Gruppen, die tagtäglich das Auto benutzen, in diesem Fall auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen wünschen.” (lsm.lv)
Doch Linkaits` Plan findet auch Kritiker. Die LSM-Journalisten Edgars Kupcs und Viktors Demidovs erläutern die Schattenseiten: Es sind verhältnismäßig wenige, die zukünftig vom kostenlosen Regionalverkehr profitieren werden; den meisten lettischen Einwohnern könnten hingegen Fahrpreiserhöhungen drohen, denn der Verkehrsminister beabsichtigt gleichzeitig, die wichtigsten Regiobus-Verbindungen Rigas mit Städten wie Daugavpils, Jelgava oder Ogre zukünftig nicht mehr zu subventionieren, sondern zu deregulieren. Für die zukünftigen Angebote privater Transport-Unternehmen müssen die Fahrgäste voraussichtlich tiefer in die Tasche greifen, prognostizieren Kupcs und Demidovs.
Die beiden befragten u.a. Ivo Osenieks, den Vorsitzenden des Verbandes der Passagierbeförderer. Er weist auf ein Paradox im politischen Handeln hin: Einerseits lassen es lettische Regierungen nun seit mehreren Jahrzehnten zu, dass das Eisenbahnnetz ausgedünnt und Buslinien geschlossen werden (weil die Autokonzerne die private Mobilmachung auch hierzulande erfolgreich propagiert haben). Andererseits beabsichtigt die Regierung nun, in den entlegensten Gebieten Buslinien zu 100 Prozent zu subventionieren. “Das ist faktisch eine politische Geste. Der Zugang zur Dienstleistung wird dadurch weder gefördert noch verbessert in Anbetracht der vorhandenen Buslinien, der einzige Ertrag von der Einführung kostenloser Busverbindungen besteht darin, dass man kein Geld kassieren muss. Es wäre ein unterstützenswerter Schritt, den kostenlosen Transport zu erweitern, wenn man berücksichtigte, ihn sogleich mit dem gewerblichen Verkehr einzuführen. Das wäre ein größerer Beitrag, denn die Zahl der Gratis-Buslinien wäre deutlich höher.”
Die Kritiker halten also den Plan des Ministers für eine Mogelpackung. Dennoch ist erwähnenswert, dass die Idee des legalen Busfahrens ohne Fahrschein nun erstmals in Lettland erprobt werden wird. Vielleicht bringt dieser Test ökologisch und sozial zukunftweisende Ergebnisse mit sich. Sergejs Maksimovs (Latgales Partija), Vorsteher des lettgallischen Bezirks Balvi und Vertreter der Regionalplanung Lettgallens begrüßt das Angebot und glaubt, dass dafür in seiner ostlettischen Region Nachfrage besteht: “Wir beobachten, dass der Grund, weshalb die Einwohner den öffentlichen Verkehr nicht benutzen, darin besteht, dass sie nicht imstande sind, für die Fahrkarten zu zahlen. Es zeigt sich einfach von Fahrt zu Fahrt, dass dieses Angebot hier notwendig ist.”
UB
Atpakaï