“eine kurzfristige schlechte Bewirtschaftung und ein langfristiger gesellschaftlicher Vertrauensverlust”
Das Naturschutzgebiet von Tervete wird von LVM verwaltet, Foto: ZwieRys at lietuvieðu Vikipçdija - Transferred from lt.wikipedia to Commons by Hugo.arg using CommonsHelper GFDL, Saite
Zur herrschenden Ideologie gehört es, dass wir in einer Meritokratie der “Leistungsträger” leben: Alle bekommen gerechterweise das, was sie verdienen. Lässt sich der Stundenlohn, den Elon Musk erwirtschaftet, “verdienen”? Oder ist es die angeeignete Arbeit anderer, die ihm ein derart astronomisches Einkommen verschafft, das ihn in die Lage versetzt, mit eigenem Raumschiff ins All zu fliegen? Seine Angestellten in der sogenannten Gigafactory in Grünheide klagen über schlechte Arbeitsbedingungen und ungerechte Bezahlung (chip.de). Doch nicht nur die inzwischen bizarr erscheinende soziale Ungleichheit auf diesem Planeten stellt die angebliche Meritokratie infrage, sondern auch die Beobachtung, dass Kandidaten auf führende Positionen berufen werden, die weder kompetent genug noch unbescholten sind. Die lettische Nichtregierungorganisation Delna, die gegen Korruption und für Transparenz kämpft, startete gerade eine Initiative auf dem Bürgerportal manabalss.lv. Sie fordert den Ministerpräsidenten Krisjanis Karins dazu auf, seinem Landwirtschaftsminister Kaspars Gerhards eine Anweisung zu erteilen. Delna verlangt vom Minister, den gesamten Vorstand des staatlichen Forstbetriebs Latvijas Valsts Mezi (LVM) zu entlassen.
Die Organisation weist auf die Bedeutung des Unternehmens hin. Insgesamt sind 22 Prozent der Fläche Lettlands im Besitz von LVM, mehr als 14.000 km², das entspricht beinahe der Fläche Schleswig-Holsteins. Damit ist die Hälfte des lettischen Waldes im Besitz dieses öffentlichen Forstbetriebs, der sowohl ökonomischen wie ökologischen Zwecken dienen soll und der dem Gemeinwohl und nicht dem Profit verpflichtet ist. In einer Pressemitteilung weist Delna darauf hin, dass LVM viele Jahre ein Musterbetrieb gewesen sei. Doch nun liege sein Management nicht mehr in den Händen ehrlicher Verwalter. Die Stellenausschreibungen und die Auswahl für die Besetzung des Vorstands hinterließen den Eindruck, dass sie im Interesse von Unehrlichkeit und Korruption erfolgt seien. Der derzeitige Vorstand bedrohe das gesellschaftliche Interesse einer sorgfältigen und behutsamen Bewirtschaftung der staatlichen Waldgebiete.
“Schon zuvor, kurz nach der Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit, wurden aufgrund korrumpierter Interessen die der gesamten Gesellschaft gehörenden Ressourcen in einer Art an sich gerissen und ausgeplündert, dass sie einige zu Reichen, aber viele zu Armen machte. Solch negatives Handeln muss der Vergangenheit angehören und Lettlands Staatsunternehmen müssen im Interesse der Gesellschaft und der kommenden Generationen gut verwaltet werden,” fordert Delna in ihrer Pressemitteilung (delna.lv). Die Nichtregierungsorganisation erinnert an die derzeitigen Herausforderungen wie Klimawandel oder steigende Energiepreise. Eigentlich sehen die Korruptionsbekämpfer Lettland dank seines gemäßigten Klimas gut gewappnet, doch politischer Einfluss auf natürliche Ressourcen steht ihrer Ansicht nach einer nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder entgegen. Das bedeute “eine kurzfristige schlechte Bewirtschaftung und ein langfristiger gesellschaftlicher Vertrauensverlust”. Das bewirke “eine ernsthafte Bedrohung für den staatlichen Wohlstand und für die Sicherheit.” Nach Ansicht Delnas entspricht die derzeitige Besetzung des LVM-Vorstands nicht den Mindestanforderungen einer guten Reputation.
Inga Snore recherchierte im August 2022 für das LTV-Magazin De Facto die Art und Weise, wie der LVM-Vorstand besetzt wurde. Am 29. Juli 2022 bestätigte der Aufsichtsrat die Kandidaten von drei der vier Vorstandsposten, die Stelle für den Umweltschutz blieb unbesetzt. Snore fand heraus, dass das Headhunter-Büro Astral Executive Search mit der Personalauswahl beauftragt worden war. Es sollte u.a. die Reputation der Kandidaten überprüfen. Das Büro hatte Geschäftsbeziehungen mit dem Bauunternehmen Velve, das sich wegen eines illegalen Kartells mit anderen Firmen seiner Branche vor Gericht verantworten muss (LP. hier). Es hatte mit den “Konkurrenten” Absprachen getroffen, um ausgeschriebene Aufträge unter sich aufzuteilen.
Snore fand heraus, dass einer der Kandidaten, die im Juli in den LVM-Vorstand für die Finanzabteilung gewählt wurden, in der Zeit der illegalen Absprachen zum Velve-Management gehörte. Iluta Gaule, die Leiterin des Headhunter-Büros nannte dies Zufall und stritt ab, dass die Kooperation mit Velve Auswirkungen auf die Kandidatenwahl gehabt hätte. Doch die LSM-Journalistin fand auch zweifelhaftes über die beiden anderen Kandidaten heraus. Einer von ihnen arbeitete zuvor im Vorstand des städtischen Forstbetriebs Rigas Mezi, wo er für die Produktion zuständig war. Zu seinem Bereich gehörte die Bewirtschaftung eines Sägewerks; die Kartellbehörde zweifelt daran, ob es wirtschaftlich betrieben wurde. Polizeiliche Ermittler werfen ihm Scheinbeschäftigung, Verschwendung und illegale Erteilung von Jagdgenehmigungen vor. Schließlich kam sogar noch der neu gewählte Vorsitzende des LVM-Vorstands ins Visier: Peteris Putnins war zuvor Manager in der Finanzbranche, arbeitete für die lettische Finanzaufsicht, für die EZB und den privaten Finanzdienstleister Decta. Seine berufliche Biographie war bislang nicht mit der Forstwirtschaft verbunden.
Die Rechtfertigung des LVM-Aufsichtsratsvorsitzenden Edmunds Belskis verdeutlicht, dass bei der Wahl des neuen LVM-Chefs ökologische und waldwirtschaftliche Kenntnisse keine Rolle spielten. Belskis sieht andere “Herausforderungen”: Investitionen in Windparks, in chemisch-industrieller Holzbearbeitung, was Kenntnisse über Investitionen und über rechtliche Grundlagen erfordere. Weshalb Delna gleich dem Ministerpräsidenten schreibt, um die Entlassung des Vorstands einzufordern, statt sich an den zuständigen Minister zu wenden, wird auf dessen Reaktion auf diese missglückte Kandidatenauswahl deutlich: Kaspars Gerhards wollte dazu nicht Stellung beziehen, weil er nicht am Verfahren beteiligt gewesen sei.
Derzeit ist der Rohstoff, mit dem LVM handelt, auf dem Weltmarkt besonders begehrt. Die Nachfrage nach Bau- und Brennholz kann kaum noch befriedigt werden. Die EU-Sanktionspolitik gegen Russland und Belarus, aus denen kein Holz mehr impotiert werden darf, treibt die Preise zusätzlich in die Höhe. Das verleitet das Unternehmen offensichtlich zu einer einseitigen ökonomischen Orientierung zulasten des Umweltschutzes. Diesen Missstand kritisierten lettische Naturschutzorganisationen schon lange vor dieser umstrittenen Kandidatenwahl (LP. hier). Im Jahr 2020 erließ das Ministerkabinett eine Verordnung über die maximal zulässige Fällmenge des Unternehmens für die nächsten fünf Jahre. Es stellte sich heraus: Die erlaubten Holzmengen sind derart groß, dass LVM-Mitarbeiter in geschützten Biotopen gesichtet wurden, wo sie illegal Bäume fällten. Die 12 Schutz-Biotope in den staatlichen Forsten sind nach Ansicht der Umweltverbände unzureichend gesichert. In einigen Fällen hatten aufmerksame Anwohner die Waldarbeiter entdeckt und das Abholzen verhindert. Die Verbände schätzen, dass 15 Prozent des Holzes, das LVM verkauft, aus diesen Biotopen stammt.
Viesturs Kerus, Vorsitzender des Ornithologischen Vereins Lettlands, meinte damals zu diesem Raubbau: “Das Gesetz zum Schutz der Arten und Biotope besagt, dass Landbesitzer oder Nutzer die Verpflichtung haben, die Vielfalt der Arten und Biotope zu bewahren. Es ist inakzeptabel, dass die AG `Latvijas Valsts Mezi` bewusst und gezielt auf staatlichem Grund Naturwerte von internationaler Bedeutung zerstört, ausnutzend, dass noch keine Einigung erzielt wurde, wie diese Biotope besser zu schützen sind. Nach unseren Kenntnissen erteilt das Unternehmen auch den Umweltbehörden keine Informationen über den Umfang der Vernichtung in den Biotopen, obwohl das Gesetz dies erfordert.” (ldf.lv)
Udo Bongartz
Atpakaï