Lettland hofft auf EU-Unterstützung beim Grenzausbau
12.11.2021
Die Orbanisierung Europas schreitet voran
Antiislamische Demonstration in Deutschland, Foto: Jasper Goslicki, Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link
Am 12. November hat die Saeima ein Baugesetz beschlossen, um die Grenzen zum Nachbarland Belarus mit einem Zaun vor Flüchtlingen und Migranten zu verriegeln, so, wie es die Regierung geplant hat. Die ersten Stacheldrahtrollen sind längst montiert (saeima.lv). Damit reagieren lettische Politiker auf das, was sie Lukaschenkos “Hybridkrieg” nennen. Während die lettische EU-Abgeordnete Sandra Kalniete (Jauna Vienotiba/ EVP) beobachtet, dass sich die Rhetorik der Brüsseler Entscheidungsträger den Forderungen ihrer Regierung angleicht, werfen Nichtregierungsorganisationen Lettland, Litauen und Polen schwere Menschenrechtsverletzungen vor.
Im Interview mit Latvijas Radio vom 11. November 2021 zeichnete Kalniete eine bedrohliche Lage (lsm.lv). Es handele sich um die schwerste Krise seit dem Zusammenbruch der UdSSR, die sogar zu einem bewaffneten Konflikt führen könne. Auf die Forderung Lettlands, dass sich die EU an der Finanzierung des Zaunbaus beteilige, hatte Ylva Johansson als zuständige Vertreterin der EU-Kommission bislang eher abweisend reagiert (LP: hier). Doch Kalniete bemerkt, dass sich die Stimmung in den EU-Etagen zugunsten der osteuropäischen Haltung ändere: “Ich habe keinen Zweifel, dass die EU den Beschluss fassen wird, die eigene Ostgrenze zu finanzieren, das ist nicht nur die Grenze Lettlands oder Polens, sondern auch die Grenze der EU.”
Die EU-Kommission hatte 2017 noch abgelehnt, sich an der Finanzierung von Viktor Orbans stacheligem Grenzzaun zu beteiligen, der nun zum Vorbild für die lettische Abwehr von Asylsuchenden wird. Die EU-Regeln bestimmten nirgends, dass man keine Mittel zur “Stärkung der Grenze” bereitstellen dürfe, meint Kalniete. Die moralische Haltung, keine Zäune zu finanzieren, sei möglicherweise entstanden, als Europa durch die Berliner Mauer geteilt gewesen sei, “doch nun herrschen andere Zeiten und es gibt eine andere Welt; der Traum, sich selbst nicht schützen zu müssen, hat sich nicht erfüllt.”
EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen scheint die osteuropäische Perspektive samt Begrifflichkeit zu übernehmen. Sie warf bei einem Treffen mit dem lettischen Ministerpräsidenten Krisjanis Karins dem Machthaber in Minsk einen “hybriden Angriff” vor, der “Menschenleben aufs Spiel” setze (ec.europa.eu). EU-Ratspräsident Charles Michel sicherte dem polnischen Premier Mateusz Morawiecki Unterstützung zu, sprach davon, dass die EU nun stark und geeint reagieren müsse, um ihre Werte zu sichern (consilium.europa.eu). Dass UNHCR und zahlreiche NGO nicht nur Belarus, sondern Lettland, Litauen und Polen ebenfalls Menschenrechtsverletzungen vorwerfen, ist offenbar kein Thema des Brüsseler Diskurses, ebenso ist die Flüchtlinsquote zum Tabu geworden.
Diese Gleichgültigkeit alarmiert Nichtregierungsorganisationen der betroffenen EU-Länder, die beobachten, dass auch ihre Regierungen Menschenleben aufs Spiel setzen. 16 von ihnen schrieben an Ursula von der Leyen und Ylva Johansson am 11. Oktober 2021 einen offenen Brief, um auf die lebensbedrohliche Situation für Obdachsuchende in den Grenzgebieten hinzuweisen. Dieser Text wurde lettischerseits von Providus, Latvian Centre of Human Rights, I Want to Help Refugees und Make Room Europe unterzeichnet (gribupalidzetbegliem.lv). Zwar halten die Autoren die Ereignisse an den Grenzen für eine Attacke des Lukaschenko-Regimes, “das Tausende von Migranten als Instrumente in einem politischen Kampf” gegen die EU benutze. Doch auch in dem, was lettische Politiker “Grenzsicherung” nennen, sehen sie einen Verstoß gegen Menschenrechte . Neben der Situation in Polen und Litauen beschreiben sie auch die international weniger bekannte Lage an der lettisch-belarussischen Grenze.
Zwischen Januar und Oktober seien 390 Personen wegen “illegalen” Grenzübertritts in Lettland festgenommen worden. Davon stammten 342 aus dem Irak. Bis Oktober beantragten 542 Personen Asyl; im ganzen letzten Jahr waren es lediglich 147. Seit dem 10. August 2021 gilt in den lettischen Bezirken zu Belarus ein Ausnahmezustand (LP: hier). Dort dürfen Grenzer Flüchtlinge und Migranten mit physischer Gewalt von der Grenze fernhalten. Zudem verweigern sie Obdachsuchenden das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Auch die Pressefreiheit ist an der Grenze außer Kraft gesetzt. Journalisten dürfen nur in Begleitung von Grenzern berichten. Aus Gründen der “Staatssicherheit” ist es nicht gestattet, staatliche Maßnahmen zu filmen oder zu fotografieren. Einzelne Grenzer dürfen nicht erkennbar sein. So hält die Regierung Reporter davon ab, eventuelle menschenrechtswidrige Aktionen zu dokumentieren (rs.gov.lv). Die NGO-AktivistInnen haben ab dem 10. August innerhalb von zwei Monaten 1534 Zurückweisungen registriert. Solche Aktionen werden von Menschenrechtlern als illegale “Pushbacks” gewertet, bei denen möglicherweise physische Gewalt eingesetzt wurde. Anfang August machten etwa 80 Obdachsuchende zwischen Belarus und Lettland Schlagzeilen, weil sie belarussische und lettische Uniformierte wochenlang im Niemandsland festhielten (LP: hier). Als die AktivistInnen der NGO I Want to Help Refugees die Betroffenen versorgen wollten, waren sie verschwunden. Später erfuhren die Helfer, dass sie gewaltsam auf belarussisches Gebiet zurückgedrängt worden waren.
Die 16 NGO fordern von der EU-Kommission, die Vorgänge an den Außengrenzen ihrer drei Länder gründlich zu untersuchen, an die politisch Verantwortlichen in den Regierungen zu appellieren, das Asylrecht und die Prinzipien der Nichtzurückweisung (Non-Refoulment) einzuhalten. Außerdem fordern sie diesbezügliche Vertragsverletzungsverfahren gegen die drei Mitgliedstaaten. Die EU soll gewährleisten, dass die nationalen Ombudsbeauftragten und Menschenrechtsorganisationen uneingeschränkt Zugang zur Grenzregion erhalten, um eine unabhängige Beobachtung und humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Die einseitigen Stellungnahmen der EU-Vertreter lassen allerdings am Erfolg dieser Initiative zweifeln.
Ob die Aufregung an der Ostgrenze ähnlich groß wäre, wenn nicht islamische Obdachsuchende über Belarus, sondern eine gleich große Anzahl christlicher Abendländler aus dem autoritären Belarus in die EU flüchtete, darf bezweifelt werden. Leila Nazgül Seiitbek, Vorsitzende der Freedom for Eurasia Foundation, wirft den Europäern doppelte Standards bei Asylbewerbern vor, bei denen Flüchtlinge aus islamischen Ländern deutlich schlechtere Chancen haben: “Seit 2015 greift die Vorstellung um sich, dass die EU von Leuten überrannt wird, die das Asyl als Vorwand benutzen, um an Europas Sozialleistungen zu kommen, nicht zuletzt wegen skrupelloser Politiker und den Medien, die sie oft als Kriminelle und Vergewaltiger darstellen. Als Folge scheint sich die Behandlung islamischer Flüchtlinge in europäischen Ländern verschlimmert zu haben. Anstelle von Asyl haben Muslime die Abschiebung zu erwarten. Ende August schoben deutsche Behörden acht Asylbewerber ins [autoritäre] Tadschikistan ab; einer anderen Gruppe droht in den kommenden Wochen das gleiche Schicksal.” (opendemocracy.net)
UB
Atpakaï