Lettland: Inflation wie zur Zeit vor der Finanzkrise
09.04.2022
Lettischer Zentralbankchef Martins Kazaks warnt vor voreiligen Zinserhöhungen
Im Inflationsjahr 1923 waren die Deutschen verarmte Multimilliardäre, Foto: CC BY-SA 2.0 de, Link
Wie flüssiges Gold glänzt das Speiseöl jetzt in den Supermarktregalen, denn seitdem in der Ukraine der Krieg wütet, haben sich die Preise für diesen alltäglichen Küchenbedarf vervielfacht. Im März 2022 erreichte die lettische Jahresinflation 11,5 Prozent. Solche Preissteigerungen erlebten lettische Konsumenten das letzte Mal vor der Finanzkrise, als Lettland monatelang die höchsten Inflationsraten in der EU aufwies. Doch derzeit verteuern sich die Waren in den baltischen Nachbarländern noch schneller. Außerdem hat die derzeitige Inflation andere Ursachen.
Das Bedenkliche an dieser Verteuerung ist, dass sie besonders Lebensmittel betrifft, also Güter, die jeder benötigt, auch jene, die sich ohnehin nicht viel leisten können und mit knappen Mitteln haushalten müssen. Hier ein paar Beispiele für Verteuerungen innerhalb eines Jahres nach Angaben der zentralen lettischen Statistikbehörde CSP, die Angaben beziehen sich auf März 2022:
-
Kartoffeln
58,60%
Frisches Gemüse
22,00%
Milch
23,30%
Mehl und Getreide
39,00%
Brot
13,70%
Fleischprodukte
11,20%
Butter
14,00%
Zucker
16,40%
Reis
25,20%
Schweinefleisch
-4,60%
In einer Zeit, in der in den ärmeren Ländern, besonders in Afrika, eine Hungersnot droht, weil zwei wichtige Lebensmittelexporteure, nämlich die Ukraine und Russland, kriegsbedingt weniger liefern können oder wollen, ist es nachteilig, dass sich gerade Fleisch verbilligt. Viehhaltung benötigt erheblich mehr Ressourcen: Um eine Kalorie Fleisch zu “produzieren”, also Vieh in Massen zu halten, verfüttern Landwirte durchschnittlich sieben pflanzliche Kalorien (brot-fuer-die-welt.de).
Da die Wirtschaft noch weitgehend auf fossilen Brennstoffen basiert, verteuern sich bei steigenden Öl-, Gas- und Kohlepreisen die Güter und Dienstleistungen in fast allen Lebensbereichen. Der Benzinpreis erhöhte sich im März um 43,3 Prozent, die Preise im Transportgewerbe um 22,9 Prozent.
Martins Kazaks, Präsident der lettischen Zentralbank, die der EZB unterstellt ist, erläuterte in einem Aufsatz, weshalb sich die jetzige Inflation von derjenigen der Jahre zwischen 2006 bis 2008 unterscheidet (makroekonomika.lv). Damals hob die Regierung die staatlichen Gehälter in kurzer Zeit an; auch private Unternehmer - besonders in der Baubranche - erhöhten rasch die Löhne, weil sonst in der kreditfinanzierten Boomblasenzeit zuviele Arbeiter ins Ausland emigriert wären. So ergab sich eine Lohn-Preis-Spirale, die zum wirtschaftlichen Kollaps in der Finanzkrise erheblich beitrug. In diesem Fall entstand Inflation, weil die Löhne stärker stiegen als die Produktivität, weil die Portemonees der Lohnempfänger sich rascher füllten als entsprechende Warenmengen hergestellt werden konnten.
Diesmal ist die Inflation importiert, weil sich die Einfuhren verteuern. Kazaks erinnert daran, dass seit der Finanzkrise die lettische Inflation nie mehr als 4 Prozent betragen hat. Häufig lag sie sogar unterhalb des Inflationsziels der EZB von 2 Prozent, was Ökonomen ebenfalls als problematisch betrachten. Eine zu geringe Inflation oder sogar Deflation ist nämlich das Kennzeichen einer stagnierenden Wirtschaft. Dann werden zu wenig Kredite benötigt, um in neue Produktionsstätten zu investieren, weil Kaufkraft und Nachfrage der Kunden nicht hinreichen. Auch während der Corona-Lockdowns war die Inflation gering, weil Konsumenten zuhause blieben und ihr Geld nicht ausgeben konnten.
Nach dem - vorläufigen - Ende der Pandemiekrise stieg die Nachfrage plötzlich an. Der vermögendere Teil der Bevölkerung hatte Geld gespart und wollte es jetzt ausgeben. Doch Händler und Dienstleister konnten den Bedarf nicht hinreichend decken, weil wegen der weltweiten Corona-Ausnahmezustände die globalen Lieferketten gestört waren und solche Unterbrechungen immer noch andauern. Unternehmer entdeckten wieder die Vorteile der Lagerhaltung, was für zusätzlichen Bedarf sorgte. Transportfirmen waren ausgelastet, so dass die Frachtpreise ebenfalls stiegen. Zudem ist anzunehmen, dass auch Spekulation und steigende Nachfrage in anderen Teilen der Welt, z.B. China, wo Menschen dem westlichen Konsumstandard nacheifern, Knappheit und Verteuerung bewirken.
Schon im letzten Jahr stiegen die Energiepreise. In Nordeuropa standen Windräder häufig still und es fiel nicht genug Regen, um die Staudämme der Wasserkraftwerke zu füllen. Atomkraftwerke befanden sich in Reparatur und Russland begrenzte die Liefermengen für fossile Brennstoffe. Ein weiterer Inflationstreiber war das Getreide; wegen des osteuropäischen Dürresommers fielen die Erntemengen gering aus.
Nun kommt der russische Angriff auf die Ukraine hinzu, worauf die EU und andere westliche Länder mit wirtschaftlichen Sanktionen reagieren, die Energie- und Rohstoffknappheit weiter verschärfen. Als größte Unsicherheitsfaktoren betrachtet Kazaks die Kriegsdauer und das Ausmaß der Sanktionen, das noch kommen könnte. Diese Inflation, die im Gegensatz zu den Jahren vor der Finanzkrise nicht mit steigenden Löhnen einhergeht, verringert die Kaufkraft. Was abgehobene politische Repräsentanten mit kurfürstlichem Monatsgehalt als “Wir können auch einmal frieren für die Freiheit” propagieren (Joachim Gauck), mag für solche Herrschaften ein skurriler Freizeitspaß bedeuten, für jene, die sich von solch einem “Wir-Gefühl” verhöhnt fühlen müssen, könnte das bald bitterer Ernst werden (youtube.de).
Kazaks bedenkt die sozialen Konsequenzen und dass es diejenigen mit geringstem Einkommen am härtesten trifft: “Wir dürfen niemanden zurücklassen, daher ist es wichtig, auf staatlicher Ebene ein soziales Netz aufzubauen und Berechnungen anzustellen, die präzise Unterstützung ermöglichen.” Da hätte die lettische Regierung viel zu tun, denn ihre Sozialleistungen sind für Bezieher geringer Einkommen nicht hinreichend. Lettland hat viele arme Rentner und ähnlich wie Deutschland einen prozentual vergleichbar großen Niedriglohnbereich; die Sozialhilfeleistungen sind erbärmlich, das staatliche Gesundheitssystem erfordert hohe Zuzahlungen.
Kazaks prognostiziert, dass die hohen Inflationsraten noch eine Weile anhalten dürften, aber in der zweiten Jahreshälfte wieder abflachen. Er warnt vor Zinserhöhungen durch die EZB, um durch verteuerte Kredite die Geldentwertung zu stoppen. Die Nebenwirkungen wie ausbleibende Investitionen, fehlende Nachfrage und steigende Erwerbslosigkeit sind gefährlicher als die Inflation selbst. Der lettische Zentralbankchef ist kein Monetarist, der auf Geldmengensteuerung setzt, das ist eine gute Nachricht. Schließlich räumt er ein, dass ein Teil der Inflation doch hausgemacht ist, denn wie in den Jahren von 2006 bis 2008 übertraf in letzter Zeit der Anstieg der Löhne wieder den Produktivitätszuwachs, nur nicht so drastisch. Das bedeutet, dass lettische Waren auf den internationalen Märkten teurer werden, weil für die produzierte Ware mehr Lohn gezahlt werden muss. Kazaks empfiehlt für die staatliche Fiskalpolitik das Übliche: Mehr Ausbildung, damit Arbeiter und Angestellte qualifizierter sind, profitablere Produkte herstellen und auf Ideen kommen, die Produktivität zu erhöhen, zudem mehr Brain-Drain-Immigration, alles mit dem Ziel, die lettische Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Wettbewerbsfähigkeit, ein Hochwertbegriff der traditionellen Ökonomie, zeigt inzwischen viele Schattenseiten. Beispielsweise bedeutet die Erhöhung der Produktivität in der Landwirtschaft ökologisch bedenkliche Industrialisierung und Massentierhaltung. Die Viehhalter “produzieren” derart viel Fleisch, dass es exportiert werden muss, auch in afrikanische Länder, wo europäisches Billigfleisch die lokalen Märkte zerstört. In der heutigen Weltwirtschaft befinden sich vor allem Lohnabhängige im Wettbewerb. Das bewirkt Stress und der Mensch nimmt den Mitmenschen als Konkurrenten wahr.
Der Ökonom Heiner Flassbeck ist kritischer und stellt die Politik der zollfreien Märkte prinzipiell in Frage (youtube.de). Solange internationaler Freihandel dazu führt, dass Importe aus dem Westen billiger sind als die eigene Herstellung, können osteuropäische Länder den produktiven Rückstand zum Westen nicht aufholen. Osteuropäische Arbeiter und Angestellte verdienen wegen der geringeren Produktivität im Durchschnitt deutlich weniger. Steigen die Löhne trotzdem oberhalb des Produktivitätszuwachses, weil sonst zuviele Lohnabhängige emigrieren würden, bedroht das auf Dauer die gesamte Wirtschaft des Landes, die dann im internationalen Vergleich ihre Ware zu teuer anbietet. Da könnten protektionistische Maßnahmen wie Zölle helfen, um die eigene Produktivität ungestört von der äußeren Konkurrenz zu entwickeln; diese Lösung ist aber in der herrschenden neoklassischen Ideologie der meisten Ökonomen unvorstellbar.
Für Flassbeck ist die unbefriedigende wirtschaftliche und soziale Situation ein wichtiger Grund, weshalb Osteuropäer nationalkonservative Regierungen bevorzugen, die häufig sozialpolitischer handeln als ihre liberalen Konkurrenten, die in einem wirtschaftsliberalen Denken befangen bleiben, das die soziale Lage ignoriert. Eine osteuropäische Linke, die solche Probleme angehen könnte, ist nicht in Sicht.
UB
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