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Lettland: Mangel an Polizisten gefährdet die Sicherheit
17.03.2021


“Irgend etwas stimmt nicht, die Menschen sind überarbeitet”

Innenminister Girgens möchte die Situation der Polizisten verbessern, hat aber kaum Geld dafür, Foto: Saeima CC BY-SA 2.0, Saite

 

Auf der Webseite der mitregierenden rechtspopulistischen KPV befindet sich ein Artikel, der die Stimmung gegen Angestellte und Beamte im öffentlichen Dienst anheizt. In ihm lobpreist Raimonds Nipers die Privatwirtschaft und behauptet nahezu sozialdarwinistisch: “Doch Menschen mit geringem IQ sehen sich als unverstanden und unterschätzt an und versuchen, sich in einem Job zu verwirklichen, wo es keine festgelegten Ziele gibt und das Arbeitsentgelt nicht von der verrichteten Arbeit abhängt und das ist der öffentliche Dienst, in welchem sie bestrebt sind, sich einzureihen. Von diesen Angestellten wird von den Vorgesetzten hauptsächlich erwartet, loyal zu sein. Infolgedessen hat sich in den Anstalten unseres öffentlichen Dienstes eine größere Schar von Unfähigen herausgebildet, in welcher der gesunde Menschenverstand abgeschafft wurde.” (kpvlv.com)


Gewiss ist Misswirtschaft, Vetternwirtschaft und Korruption auch in lettischen Behörden vorzufinden, wie in vielen anderen Ländern auch. Die pauschale, in Lettland weit verbreitete wirtschaftsliberale Propaganda, der Staat beschäftige zuviele Beamte, die miserable Arbeit leisteten und zu gut honoriert seien, trug dazu bei, dass die Mitte-Rechts-Regierungen der letzten Jahrzehnte die staatliche Daseinsvorsorge vernachlässigten. Inzwischen wird das Personal knapp. Unterbezahlt und überbeschäftigt betrachten sich in staatlichen Diensten nicht nur Ärztinnen, Pfleger, Lehrerinnen oder Rettungssanitäter. Überfordert sehen sich auch Polizisten, denen Nipers` Parteifreund Sandis Girgens als Innenminister vorsteht. Inese Liepina recherchierte für die Redaktion Re:Baltica die prekäre Situation in den heruntergekommenen Amtsstuben der Ordnungshüter. Inzwischen ist jede fünfte Stelle der staatlichen Polizei unbesetzt (rebaltica.lv). Die Verantwortlichen sehen die Grenze erreicht, bei der die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann.


Normunds Krapsis, Bezirksvorsteher der Schutzpolizei, sieht die Lage skeptisch: “Ich denke, dass derzeit tatsächlich eine recht kritische Grenze erreicht ist, wenn sich das fortsetzt, dass es jedes Jahr immer weniger werden, wenn die Neuzugänge die Abgänge nicht ausgleichen können. Irgendwann kann das ein großes Problem darstellen.” Von etwa 6900 Stellen der staatlichen Polizei sind mittlerweile 1310 unbesetzt, also jede fünfte. Besonders viele Polizisten fehlen in der Hauptstadt, wo 27 Prozent der Planstellen frei bleiben, das sind 740 fehlende Mitarbeiter. In allen Bereichen waltet der Personalmangel, sowohl in der Schutz- und Kriminalpolizei als auch in der Verkehrspolizei.  


Die Regierung investiert zu wenig in den öffentlichen Dienst. Bei der Polizei macht sich die mangelnde Finanzierung in schlechter Entlohnung und miserabler Ausstattung bemerkbar. Ein Streifenpolizist im unteren Rang verdient monatlich etwa 600 Euro netto. Jemand, der seinen Dienst in der Armee antritt, erhält von Anfang an 900 Euro. Hinzu kommt die schlechte Arbeitsatmosphäre, die manchen Ordnungshüter veranlasst, den Dienst zu quittieren. Liepina befragte einen Polizisten, weshalb er nach sieben Jahren gekündigt habe. Der Ärger sei allmählich entstanden, doch das Verhalten seines Vorgesetzten habe ihn letztlich veranlasst, das Kündigungsschreiben aufzusetzen. Als er vor einer Routine-Übung erkrankte, habe dieser ihn aufgefordert, dennoch zur Arbeit zu erscheinen. Nachdem er trotzdem ferngeblieben sei, habe ihn sein Chef zur Rede gestellt und ihm vorgeworfen, alle getäuscht zu haben. Solche Demütigungen scheinen keine Einzelfälle darzustellen. Inzwischen spricht Armands Ruks, Lettlands oberster Polizeichef, in Videokonferenzen mit den Polizisten, um solche Konflikte beizulegen.


Der Personalmangel hat bereits Auswirkungen auf die Sicherheit. Polizeistreifen sind auf den Straßen kaum noch präsent. Geschädigte müssen nach einem Notruf länger warten, bis Polizisten eintreffen. Die Verkehrspolizei ist vor allem mit der Aufnahme von Unfällen beschäftigt und hat kaum noch Zeit für Kontrollen. Die Kriminalpolizei kommt nicht dazu, sich um Bagatelldelikte zu kümmern. Liepina beschreibt als Beispiel die Situation einer Ermittlerin der Kriminalpolizei in Riga. Sie soll 400 Fälle bearbeiten, vom Fahrraddiebstahl bis zum Sexualverbrechen gegen Minderjährige. Die meisten davon sind ungeklärt und ohne Hinweis auf einen Täter. Sie muss zuviele Akten verwalten, um aktiv ermitteln zu können. Hinzu kommen die Akten von Kollegen, die gekündigt haben und deren Arbeit unter den verbliebenen Mitarbeitern aufgeteilt wird. Ihr gelingt es nicht, die Fristen der Staatsanwaltschaft einzuhalten. Die Ermittlerin arbeitet auch zuhause und fragt sich zuweilen, weshalb sie noch nicht gekündigt hat. “Staatsanwälte, Opfer, Chefetage - man kann nicht alle zufriedenstellen,” kommentiert sie ihre Situation.


2017 konnten nach amtlicher Statistik nur 33 Prozent der Fälle abgeschlossen werden, die in diesem Jahr aufgenommen wurden. Auch 2019 waren es kaum mehr. Zudem stellte der staatliche Rechnungshof fest, dass mehr als die Hälfte der Verfahren wegen Verjährung eingestellt wurden. Generalstaatsanwalt Juris Stukans ist der Ansicht, dass bei funktionierender Polizeiarbeit mindestens 60 Prozent der Fälle geklärt werden müssten.


Nicht mangelnder IQ, sondern Überlastung und Stress führen zu schlechten Ergebnissen. Laut Stukans könne man nicht zeitnah reagieren und das beinträchtige die Qualität der Arbeit. Oft kämen Ermittler erst nach Tagen dazu, sich um einen neuen Fall zu kümmern. Zeugen und Opfer berichteten dann schon ganz anders als unmittelbar nach dem Geschehen. Da keine Zeit für genaue Vorbereitung bleibe, erfassten die Fahnder Sachverhalte nur unvollständig. Bis zu sechs Mal werde ein und dieselbe Person zur Anhörung aufgefordert. “Denn den Ermittlern bleibt keine Zeit, sich vorzubereiten - sie vergessen manche Details und dann besprechen sie sich mit dem Staatsanwalt und gestehen ihm, vergessen zu haben, sie zu erfragen. Wieder muss Zeit eingeplant werden, der Betroffene einbestellt werden. Das erfordert einen enormen Zeitaufwand, manchmal vergehen Jahre. Die Qualität der Ermittlungen geht verloren.”


Die lettische Regierung lässt manche ihrer Polizeiteams in Bruchbuden arbeiten. Liepina fotografierte einen Polizisten an seinem Arbeitsplatz, der einer Messi-Wohnung gleicht. Polizeistationen befinden sich in verfallendem Gemäuer. Durch die Fensterritzen pfeift der Wind. Der Verteilerkästen stammen aus sowjetischer Zeit. Innenminister Girgens plant, die Situation zu verbessern. Er stellt sich in der Hauptstadt und in der Provinz Rettungszentren vor, die Polizei, Feuerwehr und Rettungssanitäter unter einem Dach vereinen. Dafür wären 196 Millionen Euro nötig. Er hofft, das mit dem Geld aus dem EU-Aufbaufonds finanzieren zu können. Aus dem nationalen Budget wird ihm das Kabinett, das traditionell auf ausgeglichene Haushalte bei niedriger Staatsquote bedacht ist, kaum Mittel zur Verfügung stellen.  


Polizeichef Ruks plant, die Polizisten von eintönigen Überwachungsdiensten zu entlasten und neue Kräfte für Hilfstätigkeiten einzustellen. Er will Planstellen streichen, für die ohnehin kein Geld zur Verfügung steht. Andererseits sollen die noch Beschäftigten weitere Aufgaben übernehmen. Girgens möchte im Kabinett über ein neues Gehaltsmodell verhandeln, das sich an den Gehältern der Armee orientiert. Nach den Erfahrungen, die Lehrerinnen, Ärzte und Pflegerinnen machten, ist vorherzusehen, dass auch Polizisten einen langen Atem benötigen werden. Noch ist nicht abzusehen, wann sich ihre Arbeitsbedingungen und die gesellschaftliche Wertschätzung verbessern werden. So wird die Situation auf absehbare Zeit so misslich bleiben, wie Bezirksvorsteher Krapsis sie beschreibt, der sie früher nur aus Büchern kannte: “Das war mir irgendwie fremd, doch jetzt beobachte ich das inmitten der Kollegen. Kräftige Männer sind nicht imstande, auf Dauer zu arbeiten. Irgend etwas stimmt nicht, die Menschen sind überarbeitet.”




 
      Atpakaï