Lettland: Saeima-Debatte zum Haushaltsentwurf für 2022
04.11.2021
Forderung nach aktiver Fiskalpolitik richtet sich gegen das neoliberale Mantra
Finanzminister Reirs übergibt Parlamentspräsidentin Murniece seinen Budgetentwurf für 2022, Foto: Lettisches Finanzministerium
Weniger Steuern, mehr staatliche Fürsorge. So lassen sich die Erklärungen der lettischen Regierung zu ihrem Haushaltsentwurf für das nächste Jahr zusammenfassen. Finanzminister Janis Reirs (Jauna Vienotiba, JV) überreichte sein Dokument der Parlamentspräsidentin Inara Murniece (Nacionala Apvieniba, NA), um am 25. Oktober 2021 über die Finanzierungspläne des Ministerkabinetts in erster Lesung zu debattieren (saeima.lv). Trotz der geplanten Neuverschuldung werfen Kritiker der Mitte-Rechtskoalition gebrochene Zusagen und eine zu zaghafte Investitionspolitik vor.
Die Regierungspläne
Die Vier-Fraktionen-Regierung plant 2022 rund 1,6 Milliarden Euro mehr auszugeben als in diesem Jahr. Den voraussichtlichen Einnahmen von etwa 10,7 Milliarden Euro stehen Ausgaben von rund 12,4 Milliarden gegenüber. Steuererhöhungen sind nicht geplant, statt dessen eine Entlastung für Geringverdiener: Das nicht steuerpflichtige monatliche Minimaleinkommen soll von derzeit 300 Euro stufenweise auf 500 Euro im übernächsten Jahr erhöht werden, das erspart den Betroffenen einige Dutzend Euro. Allerdings müssen Bezieher geringer Löhne weiterhin Sozialabgaben zahlen, die sie im höheren Maß belasten als die Einkommenssteuer.
Ministerpräsident Krisjanis Karins nutzte die Gelegenheit für wirtschaftsgeschichtliche Betrachtungen. Nach den Phasen der wiedererlangten Unabhängigkeit, der Privatisierungen, der Integration in westliche Bündnisse sieht Karins nun eine Zeit der Reindustrialisierung gekommen, die die Regierung fördern will. Derzeit allerdings erschweren die aktuellen Krisen das Handeln. Karins nannte neben der Migration über die belarussisch-lettische Grenze die steigenden Energiepreise und die Pandemie. Er hält die Grenzschließung zum Nachbarn und den Bau von Grenzzäunen für erforderlich, um die EU-Außengrenzen zu “sichern”. Lettland, das selbst im hohen Maß von russischen Gaslieferungen abhängig ist, plant mit Estland einen Offshore-Windpark. Karins wünscht auch auf dem Land mehr Windräder: “Und wir müssen den Widerstand überwinden, den bislang mehrere Kommunen ausgeübt haben [...] gegen neue Windparks auf dem Land, wir müssen die heimische Energieerzeugung entwickeln, um unsere staatliche Abhängigkeit von importierten Quellen und von möglicherweise großen weltweiten Erschütterungen zu verringern, die mit den Energiepreisen verbunden sind.”
Während sich in Lettland derzeit Covid-19 deutlich stärker verbreitet als in den vorhergehenden Wellen, befürchtet Karins eine gesellschaftliche Polarisierung, die von ausländischen Kräften (gemeint sind offenbar russische Medien) provoziert wird: “Das Wichtigste in unserem Land ist es, einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht der Versuchung nachzugeben, sich zu spalten, nicht der Versuchung nachzugeben, mit dem Finger vom einen auf den anderen zu zeigen und zu sagen: Wie klug ich doch selbst bin, aber der andere keineswegs. Diese Tendenz, die sich in unserem Land gerade abzeichnet, ist äußerst negativ. Ich fordere dazu auf, das zu unterlassen, denn die Kräfte, die außerhalb unseres Landes schon lange an der Erzählung arbeiten, dass Lettland in jeglicher Hinsicht mit sich nicht zurande kommt, jene heizen auch das wechselseitige Unverständnis an, sind bestrebt, in unserer Gesellschaft feindliche Lager zu bilden - eines gegen das andere. Kollegen! Weder wir in der Saeima noch wir im Land sind wechselseitig Feinde. In der Pandemie haben wir einen gemeinsamen Feind und das ist dieses schreckliche Virus, vor dem uns Impfungen bewahren können.”
Die Überwindung der Pandemie erfordert hinreichende Kapazitäten in den Arztpraxen und Krankenhäusern. Um diese war es schon vor Corona schlecht bestellt; eigentlich befindet sich das lettische Gesundheitssystem schon seit vielen Jahren im Ausnahmezustand. Insbesondere der Personalmangel bedingt unzureichende Versorgung, gekennzeichnet durch lange Wartezeiten und hohe Zuzahlungen für die steuerfinanzierten medizinischen Behandlungen. Karins weist darauf hin, dass sich die Ausgaben für das Gesundheitressort in den letzten Jahren verdoppelt hätten. Die Regierung möchte im kommenden Jahr etwa 130,5 Millionen Euro mehr für Gehälter und Einrichtungen in staatlichen Kliniken ausgeben. Zudem nennt die Regierung die Förderung von Bildung, Kultur und das Innenressort als finanzielle Aufgaben. Die Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst, die seit der Finanzkrise von 2009 erhebliche Einkommensverluste hinnehmen mussten, sollen erhöht werden.
Der Finanzminister fordert Rückkehr zur “fiskalischen Disziplin”
Janis Reirs, Finanzminister und Karins` Parteifreund, erläuterte die Regierungspläne mit bekannten wirtschaftsliberalen Ansichten. Neben der Stärkung der Konkurrenzfähigkeit und besseren staatlichen Dienstleistungen erwähnt Reirs die “Stärkung der nationalen Identität” als ein Ziel, das offenbar den nationalkonservativen Koalitionspartnern geschuldet ist. Der Minister bekannte sich dazu, dass die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Pandemie mehr Staatsschulden erfordern und erwähnte, dass die EU nun die fiskalischen Bestimmungen gelockert hat und größere kreditfinanzierte Budgetplanungen zulässt. Lettland wird bis 2027 aus den hart verhandelten Brüsseler Fördermitteln “Next Generation EU” 4,43 Milliarden Euro erhalten, teils als Subvention, teils als Kredit.
Obwohl sich die in wirtschaftliberalen Zeiten beschlossenen Maastrichtkriterien, die die staatliche Kreditaufnahme beschränken, wiederholt als nicht krisentauglich erweisen, gehört die lettische Regierung zu jenen EU-Mitgliedern, die an der monetaristischen Haushaltspolitik prinzipiell festhalten und nach der Krise zum fiskalischen Business as usual zurückkehren wollen: “Da die erleichterten fiskalischen Bestimmungen die Mehrheit der EU-Staaten zu einem höheren Schuldenniveau geführt haben, hat die EU-Kommission eine Diskussion zur Überprüfung der Vorschriften über fiskalische Disziplin eingeleitet. Auch Lettland hat bekundet, dass es die Beachtung strengerer fiskalischer Disziplin unter nachpandemischen Bedingungen unterstützt. Sehr wahrscheinlich werden die Vorschriften fiskalischer Disziplin schon in der Budgetplanung des nächsten Jahres angewendet,” kündigt Reirs an.
Opposition kritisiert gebrochene Versprechen und mangelnde Fiskalpolitik
Einige Abgeordnete der Opposition kritisierten, dass bei geplanten staatlichen Gehaltserhöhungen vor allem Politiker in hohen Ämtern profitierten. Valerijs Agesins (Saskana) nannte die Monatsgehälter des Staatspräsidenten, der Saeima-Vorsitzenden und des Ministerpräsidenten als Beispiele, die von derzeit 5960 bzw. 5000 Euro im übernächsten Jahr auf 7600 Euro angehoben werden sollen. Agesins hält dies im Vergleich zu den Gehaltserhöhungen für medizinisches Personal oder Lehrer für nicht derart ausgewogen und angemessen, wie es die Regierung darstelle. “Ich möchte die Autoren des Budgets daran erinnern, dass jedes Jahr 200 Ärzte Lettland verlassen, uns fehlen derzeit dreieinhalbtausend Krankenschwestern. Aber es scheint so, dass die Koalition andere Sorgen hat: Üppig muss ihre größte Stütze bedacht werden: Die Beamtenschaft auf allen Ebenen. In unserem Staat ist die Beamtenschaft nicht professionell, sondern politisch. Dort sitzen jahrelang die von den Parteien Berufenen, daher sind sie derart unfähig, rechtzeitig Beschlüsse zu fassen. Die Regierungsbeschlüsse im Zusammenhang mit Covid-19 sind beispielsweise chaotisch, schwer nachvollziehbar und oft auch unerfüllbar.”
Agesins` Fraktionskollege Igors Pimenovs beobachtet, dass der Regierungsentwurf bereits jetzt eine Welle der Enttäuschungen entfache. Gewerkschafter und Ärzteverbände beklagten, dass die Regierung ihre Gehaltsversprechungen nicht erfülle. Dann verdeutlichte das Mitglied der Saeima-Kommission für Haushalt und Finanzen den wirtschaftspolitischen Unterschied zwischen seiner keynesianisch orientierten Partei und den Vorstellungen der Regierung. Nach Ansicht Pimenovs` benötigt Lettland mehr Investitionen, um seine Wachstumsziele zu erreichen. “Wie erhöht man die Investitionen in die lettische Wirtschaft? Die bisherige Politik der Wirtschaftsförderung basiert auf die Einbindung privater Investitionen und in Beschränkungen zur makroökonomischen Stabilisierung, hoffend, dass das Geld von Privatpersonen in die Realwirtschaft fließt. Dagegen sehen wir, dass, falls das überhaupt stattfindet, dieser Prozess kurzfristig ist und dem Anstieg privater Investitionen deren Fall folgt. Unter diesen Umständen muss die Erhöhung öffentlicher Investitionen die Priorität der Investitionspolitik bilden.”
Der Saskana-Abgeordnete sieht in neoliberalen Auffassungen den Grund, weshalb die Regierung bei öffentlichen Investitionen zögert. “Der neoliberale Glaube, dass ein ausgeglichener Haushalt das Kreditrating steigert und Investoren lockt und eine aktive Fiskalpolitik als Verschwendung ansieht. Seit zehn Jahren wiederholen europäische Regierungschefs ununterbrochen immer und immer wieder das von der EU-Kommission eingeübte neoliberale Mantra: Man muss entsprechend seinen Mitteln leben, nicht auf Kosten zukünftiger Generationen. Und so wurde bewusst verschwiegen und geriet in Vergessenheit, dass das Leben mit Schulden das ABC der wirtschaftlichen Entwicklung freier Märkte darstellt, dass kommende Generationen schuldenfrei auch neuen Wohlstand nutzen, der geschaffen wird, indem man geliehenes Geld investiert. Historisch ist gerade die aktive Fiskalpolitik eine der wichtigsten Maßnahmen zur Entwicklung der westlichen Volkswirtschaften gewesen.”
Daher wende sich seine Partei Saskana gegen die seit 2012 betriebene Fiskalpolitik der Wirtschafts- und Währungsunion und den Beschränkungen ihres Stabilitäts- und Wachstumspakts, der eine aktive Fiskalpolitik verhindere. “Saskana wendete sich dagegen, denn dieser Vertrag wurde zur rechtlichen Grundlage strikter Sparpolitik, die in allen Mitgliedstaaten der EU eine Zunahme der Armut bewirkte, darunter auch in Lettland.” Pimenovs sieht in der Corona-Krise die Chance, finanzpolitische Fehler zu korrigieren. “Schon früher war zu beobachten, dass in der Krisenzeit am Ende alles in Kraft tritt, was zuvor heranreifte und alles das verabschiedet wird, was schon längst hätte verschwinden müssen. Wenn es nicht das Leid der sterbenden und erkrankten Menschen gäbe, müsste man der Covid-19-Infektion dankbar sein, dass sie die Tore zur Entwicklung einer Fiskalpolitik geöffnet hat.”
Der Streit zwischen Monetaristen und Keynesianern dürfte in den nächsten Jahren nicht nur in Riga, sondern auch in Brüssel und Straßburg die wirtschaftspolitischen Debatten bestimmen. Ob die beiden Alternativen hinreichende Optionen bieten, um die multiplen ökologisch-sozialen Krisen der Zukunft zu meistern, bleibt allerdings zweifelhaft. Auch Keynesianer befürworten beständiges Wirtschaftswachstum, dessen ökologische Grenzen der Club of Rome bereits im Jahr 1972 aufgezeigt hat.
UB
Atpakaï