"Elise Jung-Stillings Tagebuch ihrer Italienreise" - Vortrag von Anja Wilhelmi
01.12.2022
Weibliche Unternehmungen an den Grenzen des Patriarchats
Selbstporträt Selma des Coudres, die eine Schülerin Jung.Stillings war, Foto: CC BY-SA 3.0 de, Link
Elise Jung-Stilling war die erste Frau im Baltikum, die sich zur Malerin ausbilden ließ und eine Kunstschule eröffnete. Sie und ihre Schwestern, die in Mitau (Jelgava) im begüterten Haushalt des Vaters, des kurländischen Gouverneurpostmeisters, aufwuchs, interessierten sich für Kunst und Kultur. Amalia Jung-Stilling wurde eine geachtete Pianistin und gemeinsam mit der dritten Schwester Luise gründeten sie einen Jungfrauenverein, der in Riga eine Handarbeitsschule für Mädchen organisierte. Elise Jung-Stilling richtete zusätzlich 1873 eine Schule für Zeichenunterricht ein, die wenige Jahre später von der Petersburger Kunstakademie als Kunstschule anerkannt wurde. Anja Wilhelmi, Mitarbeiterin des Nordost-Instituts in Lüneburg, berichtete am 29. November 2022 in einer Videokonferenz des deutsch-lettischen Kulturvereins Domus Rigensis von einem erfüllten Lebenstraum der Pädagogin und Malerin: Ihrer Reise nach Italien.
Elise Jung-Stilling war bereits eine ältere Dame, als sie am 17. März 1896 ihre mehrmonatige Reise antrat, über die sie ein Tagebuch führte, das lange Zeit als verschollen galt. Wilhelmi hat die Handschrift entziffert und wird ihr Transkript der 199 Seiten in einer kommentierten Online-Fassung veröffentlichen. Im Vortrag berichtete sie vom Inhalt, aber auch von den wissenschaftlichen Fragen, die sie sich bei der Lektüre gestellt hat.
Die Eisenbahn machte das Reisen im 19. Jahrhundert erschwinglicher und bequemer. Eine Fahrt mit dem Zug wurde zum touristischen Massenvergnügen. Nun konnten auch jene fremde Regionen kennenlernen, die zuvor die Scholle ihres Grundherrn kaum verlassen durften. Wie so vieles, war auch das Reisen vorwiegend Männern vorbehalten. Doch die Technik emanzipierte; mit dem Zug wagten nun auch Frauen, die Ferne zu erkunden. Elise Jung-Stilling reiste zunächst von Riga nach Wien, dann weiter nach Florenz und Umbrien; schließlich erreichte sie Rom. Sie beschrieb ihre Begegnungen mit Freundinnen, das künstlerische Milieu in den italienischen Städten, die antike Kunst. Die antiken Skulpturen und Bauten waren immer noch Maßstab und Vorbild des künstlerischen Schaffens. An der Petersburger Kunstakademie wurde gelehrt, die Kunst der Alten zu kopieren.
Elise Jung-Stilling wohnte in Rom in einem Diakonissenheim. Ihre Aufzeichnungen belegen, dass sie mit ihren Freundinnen nicht nur Kunstschätze inspizierte, sondern auch bestrebt war, das Leben der Italiener kennenzulernen. Die Frauen besuchten die Lokale der Einheimischen oder fuhren in einer billigen Klasse Zug, um mit jungen Männern ins Gespräch zu kommen. Wilhelmi untersucht, aus welcher Perspektive Jung-Stilling das Fremde beschrieb. Damals war noch die Klimatheorie populär, die den mentalen Unterschied von Nord- und Südländern erklärte: Der heiße Süden macht demnach das Temperament hitziger und leidenschaftlicher. Wilhelmi erforscht, wie die Autorin das Bekannte und das Unbekannte darstellt, die Eindrücke sprachlich verarbeitet, bei denen Wörter wie Zauber, Sonne und Seele eine besondere Bedeutung erhalten.
Die Italienreise war gewiss ein Lebenstraum, den sich Jung-Stilling im fortgeschrittenen Alter erfüllte. Der 66jährigen verursachte das Reisen manche Strapazen. Manche Wanderungen, die ihre Freundinnen unternahmen, musste sie absagen. Als sie nach Riga im Juni 1896 zurückkehrte, unterrichtete sie wieder in ihrer Zeichenschule, die sie noch bis zu ihrem Tod 1904 leitete. Jung-Stilling verfügte über professionelle Zeichen- und Malkenntnisse. Julius Döring hatte dem Mädchen im Mitauer Elternhaus Unterricht gegeben. Der Maler interessierte sich für die Familie, weil sie Nachfahren des Schriftstellers Johann Heinrich Jung-Stilling waren, der als Straßburger Student Goethe und Herder kennengelernt hatte. Döring vermittelte Elise einen Aufenthalt in Dresden, wo sie im Atelier von Adolf Ehrhardt weiter ausgebildet wurde. Die Gründung von Jung-Stillings Malschule ist ein wichtiges Datum der lettischen Kunstgeschichte. Nach ihrem Tod ging aus Jung-Stillings Zeichen- und Malschule die Rigaer Kunstschule hervor, an der unter anderem Vilhelms Purvitis, der bekannteste lettische Landschaftsmaler, unterrichtete.
Elise Jung-Stilling und ihre Schwestern Amalia und Luise versuchten, für Frauen die engen Grenzen, die ihnen in einer von Männern beherrschten Welt gezogen waren, zu erweitern. Vermutlich blieben sie deshalb unverheiratet, weil die Rolle als Ehefrau das Dasein zu sehr beschränkt hätte. Sie gründeten in Riga einen Jungfrauenverein, der eine Handarbeitsschule für Mädchen organisierte. Die lettische Kunsthistorikerin Baiba Vanaga beschäftigte sich auch mit diesen Aktivitäten (jauns.lv). Zwar vermittelte der Unterricht an ihrer Schule nur Frauentypisches wie Nähen, Kinder erziehen und Herrschaften bedienen; doch die Professionalisierung solcher Kenntnisse verhalf den Mädchen zu besseren Jobs und selbst verdientem Geld. Im deutschbaltischen Adel waren sie als Dienstmädchen begehrt. Manche von ihnen schafften den Sprung in ein eigenständiges berufliches Leben, arbeiteten als Erzieherinnen in Kindergärten, leiteten die Hauswirtschaft in Firmen und Institutionen oder wurden selbst Lehrerinnen. Elise Jung-Stilling bleibt als Kunstpädagogin in Erinnerung. Dass sie selbst eine begabte Zeichnerin war, das bekunden drei Kohlezeichnungen, die sich im Inventar des Lettischen Nationalen Kunstmuseums befinden.
Udo Bongartz
Atpakaï