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Schwierige Ostern
15.04.2022


Wehe den Abweichlern

Putin-Karikatur in Riga, Foto: Michael Gallmeister

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: `Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.` Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“ (Matthäus 5.43-44)


Ostern und Putin - das ist eine schwierige Gedankenkombination in diesen Tagen. In Riga ließ ein Künstler gegenüber der russischen Botschaft ein riesiges Plakat mit rotem Hintergrund aufhängen. Darauf ist der Kopf des russischen Staatspräsidenten zu sehen, der sich von der Stirn bis zum Kinn in einen Totenschädel verwandelt. Der russische Botschafter beschwerte sich; der lettische Außenminister entgegnete, dass Lettland die Freiheit der Kunst schütze. Aufgestellte Stände mit blau-gelber Symbolik, die die russischen Diplomaten ebenfalls von ihrem Fenster aus betrachten können, halten ihnen Putin-Karikaturen vor: Putins Kopf unter der Guillotine oder am Galgen; Putins Kopf mit Hitler-Bärtchen und der Unterschrift “Putler”.


Die Zeit des Krieges ist die Zeit entschiedener Bekenntnisse. Es herrscht der Gruppenzwang zu Betroffenheitsbekundungen. Statt die vielen, gewiss düsteren Grautöne eines militärischen Konflikts aufzuzeichnen, werden im allgemeinen Diskurs Zerrbilder in Schwarz und Weiß verlangt. Wehe dem, der Putin nicht mit Hitler gleichsetzt (kurier.at) und Wolodymyr Selenskyj nicht als friedensnobelpreiswürdigen Helden verehrt (orf.at). Wutbekundungen auf den Aggressor sind ebenso angesagt wie die Solidarität mit den Opfern, den Kriegstoten, den Verletzten, jenen, die um Hab und Gut gebracht wurden, sich auf der Flucht befinden. Die Emotionen einen; Angst und Wut finden in Bildern und Sprache gemeinsamen Ausdruck. Doch Wut und Angst haben als Ratgeber keinen guten Ruf.


Angst essen Seele auf” titelte einst Rainer Werner Fassbinder. Angst blockiert das Denken. Das war in Vorzeiten ratsam; wer dem Säbelzahntiger begegnete, sollte sich auf seine Reflexe verlassen und nicht erst die Situation erörtern. Doch beim modernen Menschen richtet dieses Gefühl in vielen Situationen mehr Schaden als Nutzen an. Jeder Prüfling weiß, wie sehr die Furcht, eine Prüfung nicht zu bestehen, das Denken derart blockiert, dass man durchfällt. Und so bestehen die Forderungen in alten Reflexen: Aufrüstung und Waffenlieferungen, kurzum: mehr Abschreckungspolitik; als ob eine solche tatsächlich Frieden gewährleistete. Seitdem Atomwaffen die Menschheit in Schach halten, ist ihr Überleben mehr dem Glück als dem Verstand geschuldet - und Menschen wie Stanislaw Petrow, die sich der eingeübten Befehlskette verweigern: Petrow ist es zu verdanken, dass die Menschheit den 25. September 1983 überlebte. “Wir müssen lernen als Brüder zusammenzuleben oder wir werden wie die Dinosaurier aussterben,” war sein Ratschlag, der leider nicht auf Denkmälern verewigt ist. (wdr.de)


Wehe den Abweichlern. Alexander Graf Lambsdorff erweitert den Kreis der Feinde, die nicht mehr dazu gehören, zum Beispiel Friedensbewegte mit ihren Anti-Atomwaffenbekundungen und pazifistischen Konzepten. "Wenn Ostermarschierer jetzt Abrüstung fordern und in Interviews vorschlagen, die Ukraine 'gewaltfrei zu unterstützen', spucken sie den Verteidigern Kiews und Charkiws ins Gesicht," meint er. "Sie traumatisieren die zu uns Geflüchteten ein zweites Mal, denn sie schützen die Mörder und Vergewaltiger von Butscha, Irpin und Mariupol," behauptet er. "Die Ostermarschierer sind die fünfte Kolonne Wladimir Putins, politisch und militärisch," glaubt er. (presseportal.de). Der FDP-Politiker mit deutschbaltischen Ahnen kann sich auch auf Christus berufen: “Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.” (Matthäus 12.30)


Wehe den Relativierern. Für die Opfer ist die verübte Gewalt ein unvergleichbares Verbrechen; sie müssen die Folgen tragen, der Tod geliebter Angehöriger, verstümmelnde Verletzungen, zerstörte Existenzen. Ausgesprochene Tatsachen wie “Krieg hat es schon immer gegeben” und “Andere haben auch gelitten” wirken gegenüber den Opfern menschenverachtend. Doch die Empathie für singuläres Leid wird fragwürdig, wenn sie von Journalisten und Politikern instrumentalisiert wird und dieses Gefühl beginnt, die internationalen Beziehungen zu bestimmen. Auch Empathie kann zu einem Gefühl werden, das die praktische Vernunft untergräbt. Wer politisch handelt, muss einordnen und relativieren dürfen, ohne sich dem Vorwurf des “Whatsaboutism” ausgesetzt zu sehen. Weil Putin nun das absolut Schwarze verkörpert, sind wir im Westen die reinen Weißen?


Wehe Jimmy Dore, als „Komiker“ ein Kollege Selenskyjs, der auch das Fach wechselte und sich nun als politischer Kommentator betätigt. Er wirft den US-Medien „Psychotic Warmongering“, also psychotische Kriegshetzerei vor. Er erinnert an westliche Gewalt in Irak, Libyen, Somalia, Jemen, Syrien und Afghanistan; er setzt die US-Präsidenten, die diese Kriegseinsätze verantworteten, mit Putin gleich (youtube.de). Welch eine unerhörte Abweichung vom westlichen Narrativ, nach dem ein exzeptionelles Land wie die USA von Natur aus gar keine Verbrechen begehen kann.


Wehe dem öffentlich-rechtlichen Sender LTV, der es wagte, in seinem russischsprachigen Programm einen russischen Journalisten zu interviewen. Leonid Ragozin, ein freier Journalist, der u.a. für die BBC berichtete und Putins Herrschaft als repressives Regime kritisiert, hatte es sich herausgenommen, abweichende Narrative darzustellen. Darauf stellte Verteidigungsminister Artis Pabriks die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien in Frage, spekulierte, ob Ragozin ein Agent des Kremls sei und ob es im Zweiten Weltkrieg vorstellbar gewesen wäre, dass britische Medien Nazi-Agenten interviewten (pietiek.com). Sigita Roke, LTV-Chefredakteurin, entgegnete, dass sich öffentlich-rechtliche Medien um Meinungsvielfalt kümmern müssen und formulierte das journalistische Ideal: „Wir sind überzeugt, dass unser Zuschauer vielseitige Informationen wünscht, um selbstständig zu beurteilen und selbst seine individuellen Rückschlüsse zieht, er benötigt nicht nur eine, richtige Meinung. Um die Wahrheit zu finden, muss man das vollständige Bild zeigen, auch dann, wenn das gestaltete Bildmosaik unannehmbar scheint oder nicht den Vorstellungen jedes einzelnen entspricht.“ (lsm.lv)


Wehe den Pazifisten. Ilja Bolsakovs ist ein Quäker; er gehört also einer christlichen Gemeinschaft an, die ihre Mitglieder verpflichtet, den Kriegsdienst zu verweigern. In einem Land, das seine Unabhängigkeit mit gewaltlosem Widerstand erreichte, sind pazifistische Vorstellungen mittlerweile zum Tabu geworden. Bolsakovs beschrieb 2018, wie sich Lettland militarisiert hat und jene als die größten Patrioten gelten, die mehr Geld für Militärisches fordern (satori.lv). Er fragte sich, ob Pazifisten nun Landesverräter seien. „Pazifismus und das Streben nach Frieden ist nicht die Ansicht idealistischer Idioten. Das ist die Überzeugung, dass der Krieg keine Lösungen bringt, denn die vom Krieg gebotenen Lösungen sind kurzfristig.“ Seiner Ansicht nach sei ein „schlechter“ Frieden besser als ein „guter“ Krieg, also Kapitulation oder zumindest Kompromissbereitschaft des Opfers besser als das Harren auf dessen Sieg, der noch viel Leid beanspruchen könnte. Es scheint, dass solche Gedanken inzwischen nicht nur in Lettland und Deutschland ziemlich unerwünscht sind. 

Udo Bongartz




 
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