Latvieðu Centrs Minsterç

   

Am “Tag der Jugend” gibt es wenig zu feiern in Europa – Die Londoner Unruhen beschäftigen auch lettische Sozialwissenschaftler
12.08.2011


Autowracks in TottenhamDie Kulturorganisation der Vereinten Nationen, die UNESCO, erklärte 1999 den 12. August zum “Tag der Jugend”.  Nach den britischen Brandschatzungen klingen die offiziellen Lobpreisungen der UNESCO-Generalseketärin Irina Bokova in europäischen Ohren unfreiwillig komisch: Sie beziffert die Zahl der Jugendlichen, die die Welt bevölkern, auf eine Milliarde, die “eine Milliarde Hoffnungen für eine bessere Zukunft und eine Milliarde Ideen, um die Welt zu verändern, mit sich führen”.  In London präsentierten pfiffige Kids nun die Idee eines feurigen Krawall-Shoppings. Londonas liesmas, die Flammen von London, wurden auch von lettischen Journalisten und Sozialwissenschaftlern beachtet und kommentiert. Sie sind sich uneins, ob die Jugend ihres Landes ebenfalls zum Streichholz greifen könnte. Soziale Begründungen gäbe es: Der Anteil jugendlicher Arbeitsloser ist hierzulande deutlich höher als in Großbritannien. Doch Letten demonstrieren Gefühle von Frust und Wut meistens gewaltlos.

Autowracks in London nach den nächtlichen Jugendkrawallen im August 2011, Foto: Alan Stanton auf Wikimedia Commons

 

Soziale Ursachen bestehen auch in Lettland

Der Sozialanthropologe Roberts ??lis, der in Cambridge seine Dissertation schrieb, warnt dennoch, dass Lettland vor britischen Verhältnissen nicht gefeit sei. “Auch in Lettland muss man die Anzeichen sozialer Unzufriedenheit zur Kenntnis nehmen und der Gefahr vorbeugen, dass irgend etwas dieser Art geschehen könnte,” äußerte sich der Wissenschaftler gegenüber der Tageszeitung Diena vom 11.8.11. Er schlug der lettischen Regierung vor, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die sich mit den Ursachen solcher Unruhen beschäftigt und Gegenmaßnahmen vorschlägt. Lettlands oberster Polizeichef, Ints ?uzis, teilt ??lis` Sorgen. Im selben Artikel meinte er: “Man muss stets daran denken, dass sich solche Dinge ereignen können. Wenn wir diese Verwüstungen auch als Verbrechen auffassen, so sind doch immer sozialökonomische Aspekte ein Grund dafür. Auch in Lettland gibt es solche Probleme, deshalb muss man damit rechnen, dass derartiges passieren kann.” Er erinnerte an den 13.1.2009, als auf dem Höhepunkt der Finanzkrise lettische Jugendliche versuchten, das verhasste Parlament zu stürmen. Das endete mit Verletzten und Sachschäden. “Der 13. Januar erteilte uns eine Lektion, denn bis dahin glaubten wir, dass solches in Lettland nicht sein kann.” Die Jugendgewalt schockierte damals die lettische Bevölkerung, die doch ihre nationale Unabhängigkeit mit gewaltlosen Protesten erkämpft hatte.

Jugend-Proteste am 13.1.2009

Lettische Poteste am 13.1.09: Unter einem Plakat mit dem Porträt des Staatspräsidenten Valdis Zatlers und der Aufforderung: "Valdis, mache die Augen auf!" ist eine russische Fahne zu sehen, Foto:Romualds Vombuts/esports.lv


Krawall als typisch britische Tradition

??lis` Kollegin Aivita Putni?a, die ebenfalls in Cambridge studierte, sieht hingegen deutliche Unterschiede zwischen den Verhältnissen im Königreich und der Baltenrepublik. Die Unruhen in englischen Großstädten seien spezifisch britisch, sie wiederholten sich periodisch und unterschieden sich nur im Ausmaß. “Das sind mehrheitlich junge Männer, welche in der Schule keinen Erfolg haben und die sich für den Unterricht nicht interessieren.” Zwar möge es in Lettland ähnlich Ungebildete geben, doch in weitaus geringerer Anzahl. “Wir haben traditionell verschiedene außerschulische Aktivitäten und Interessengemeinschaften. Die britischen Jugendlichen leben im Bewusstsein, dass sie nichts zu verlieren haben. In Lettland schimpft man in der Küche, doch die Wahrscheinlichkeit ist äußerst gering, dass dies zu Massenunruhen führen könnte,” kommentierte die Sozialanthropologin in derselben Diena-Ausgabe. Auch das Webportal Delfi sammelte Expertenmeinungen und fügte die Ansicht von Kl?vs Sedlenieks hinzu, der ebenfalls im Fach Sozialanthropologie tätig ist. Er betrachtet die Plünderungen als “traditionelle Protestform” in England. “Wir haben keinen Anlass zur Sorge.” In Lettland benötige man mehrere gleichzeitige Faktoren, um die Menschen auf die Straße zu treiben: “Erstens: Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation, zweitens Unzufriedenheit mit der politischen Situation und drittens eine falsche Handlungsweise.”

Studenten protstieren

Lettische Studierende protestierten mehrmals friedlich und fantasievoll gegen die Sparpläne in der Bildungspolitik, Foto: LP

 

Arbeit schändet doch - Soziale Probleme lettischer Jugendlicher

Sedlenieks beschreibt keine undenkbare politische Lage. Anlässe, die die Letten auf die Straße trieben, gab es in den letzten Jahren genug. Doch solche Proteste führten Bildungsbürger an, die konkrete Kritik äußerten und politische Ziele formulierten. Studierende demonstrierten mehrmals gegen den Spar-Kahlschlag an ihren Hochschulen. Leider bereiten solche demokratischen Kundgebungen weniger Schlagzeilen als zerbrochene Schaufenster und brennende Fassaden. Grund für sozialen Unmut finden auch lettische Heranwachsende. Laut Eurostat betrug ihr Anteil unter den Erwerbslosen im März 27,8 Prozent. In Großbritannien sind es weniger als 20 Prozent. Immerhin hat sich die lettische Zahl deutlich reduziert. Auf dem Höhepunkt der Krise erreichte die Jugendarbeitslosigkeit hierzulande noch spanische Dimensionen. Die jungen Europäer stehen nicht selten auf der Verliererseite des Spalts, der sich auf ihrem Kontinent auftut: Auf der einen Seite sammeln sich Arbeitnehmer, die noch bessere Gehälter mit langfristigen Verträgen ergattern und Selbstständige, die eine gewinnträchtige Marktnische gefunden haben, auf der anderen Seite gesellen sich zu den Arbeitslosen die prekär Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverhältnissen und geringen Löhnen, geknebelte Scheinselbstständige oder auch Praktikanten, die ihre Arbeit manchmal gänzlich ohne Lohn verrichten. Solche Jobs sichern weder den Lebensunterhalt noch verleihen sie gesellschaftliche Anerkennung. Kaspars ??rmanis berichtet auf politika.lv über eine lettische Variante solcher Verhältnisse. Er resumiert auf der Webseite seine Master-Arbeit. Ihr Thema ist die Situation der Simtlatnieki, also jener Menschen, die der lettische Staat für 100 Lats (141 Euro) im Monat beschäftigt. Das reicht nicht einmal, um in Riga die Miete zu bezahlen. Zirka 80.000 Simtlatnieki kehren, bewachen und pflegen öffentliche Straßen, Plätze und Gebäude, weitere 50.000 Erwerbslose befinden sich in der Warteschleife. ??rmanis befragte 20 Betroffene. Zwar verschafft ihnen die Arbeit einen geregelten Tagesablauf und ermöglicht Kontakt zu den Mitmenschen. Aber sie betrachten ihre Tätigkeit nicht als “richtige Arbeit”.  Das Hantieren mit Spaten oder Besen setzt keine Qualifikation voraus, viele befürchten, nach einem halben Jahr im 100-Lats-Programm keine reguläre Arbeit mehr zu finden. Lettische Jugendliche scheuen diese Arbeit, nicht aus Faulheit, sondern wegen der Schande: Ein Junge weigerte sich als Simtlatnieks auf einem Gelände zu arbeiten, das sich in der Nähe seiner alten Schule befand. Er fürchtete, dort Bekannte zu treffen, die ihn auslachen könnten. Simtlatnieki sind inzwischen nur noch Asto?desmitlatnieki, denn die Regierung hat ihren Lohn seit dem Juli auf 80 Lats reduziert. Dieses Beschäftigungsprogramm wird am Jahresende eingestellt.

 

Weitere LP-Artikel zum Thema:

Unruhen nach Protestdemonstration in Riga

Lettische Hochschulpolitik: Von Kritik auf Besserwessi-Niveau und von wahren Problemen

 

Externe Linkhinweise:

delfi.lv: Grauti?u iesp?jam?ba Latvij? - ekspertiem domas dal?s

diena.lv: ??lis aicina veidot speci?lu grupu, lai izv?rt?tu iesp?jas mazin?t soci?lo spriedzi

politika.lv: Dz?ve šodienai

apollo.lv: «Simtlatniekus» gaida izmai?as




 
      Atpakaï