Lettland: Oppositionsabgeordnete kritisieren Merkozys Schuldenbremse
27.01.2012
Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel einigten sich im Dezember darauf, alle EU-Mitgliedsstaaten mittels `Schuldenbremse` zum Abbau der Staatsschulden zu verpflichten. Allgemeine staatliche Sparpolitik soll die Lösung der Finanzkrise bringen. Die lettische Regierung, die Lettland im `Kern Europas` sehen möchte, unterstützt das Vorhaben der beiden europäischen Großmächte. Am 26.1.12 debattierten die Saeima-Abgeordneten über diese und weitere internationale Themen.
In der Saeima debattierten die lettischen Parlamentarier über Europa und die internationale Politik, Foto: Ernests Dinka, Saeima
ZRP: Ein solidarisches Europa schützt die Kleinen
Die Parlamentsdebatte zum Thema Außenpolitik fand in dieser Form zum zweiten Mal statt. Sie soll eine Tradition anlässlich eines diplomatischen Gedenktags begründen, denn am 26.1.1921 erfolgte die internationale Anerkennung der Lettischen Republik. Außenminister Edgars Rink?vi?s (Zatlers` Reformpartei, ZRP) eröffnete die Debatte. Er bekannte sich zu einem solidarischen Europa. Doch manche verstünden die EU als Melkkuh, von der man Gelder bekomme, um sie dann unkontrolliert zu verschwenden. Andere hingegen seien der Ansicht, dass die EU versuche das Leben jedes Individuums zu regulieren und ihnen ihren Willen zu diktieren. Rink?vi?s setzte solchen Egoisten und Skeptikern sein eigenes Verständnis entgegen: „Die Europäische Union sind wir selbst. Wir bestimmen das eigene und auch Europas Leben. Das lettische Volk hat tragische Erfahrungen aus der Zeit, als in Europa jeder für sich selbst kämpfte und die Stärksten und Größten dominierten. Ein stärkeres Europa, in dem wir dabei sind und uns an Beschlüssen beteiligen, ist die beste Garantie, dass wir derartiges nicht mehr erleben werden.“ Rink?vi?s sieht Lettland im Zentrum, nicht am Rande Europas, wo sich derzeit Großbritannien befindet und begrüßt daher den neuen Vertrag der 26 EU-Länder. Dieser beinhaltet, dass die einzelnen Parlamente Schuldenbremsen gesetzlich verankern. Dies sei ein Vertrag, den Lettland ohnehin schon erfülle. Die lettische Regierung orientiert sich strikt an den Maastricht-Kriterien, weil sie den Euro einführen möchte.
Staatspräsident Andris B?rzi?š verfolgte die Debatte vor Ort, Foto: Ernests Dinka, Saeima
SC: Die neoliberale Rechnung zahlen Rentner, Bedürftige, Studenten, Kranke und Erwerbslose
Sergejs Mirskis, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses der Saeima, (Saska?as Centrs, Zentrum der Eintracht, SC), widersprach den monetären Sparzielen der Europapolitiker. Merkel und Sarkozy lösten mit ihrer Schuldenbremse die Ursache der Krise nicht: „Um 2014 in die Eurozone zu kommen müssen wir die Maastricht-Kriterien erfüllen. Das hören wir beinahe jeden Tag von der Regierungsseite. Das ist schwer angesichts der inneren Probleme Lettlands, der schwächelnden Produktion, der niedrigen Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft, der Arbeitslosigkeit, der Abwanderung der Menschen ins Ausland und des unvergleichlich schwachen Sozialbereichs.“ Mirskis widersprach zudem der Ansicht der Regierung, dass Lettland von der EU mehr bekomme als ihr gebe. „Das ist für mich eine unannehmbare Meinung. Wir gaben Europa das Wertvollste, was wir haben – beinahe 10 Prozent unseres Volkes, der energischste Teil, die Wissenden und gut ausgebildeten Menschen, überwiegend jung und kräftig. Ich würde der Ansicht zustimmen, falls die Bürger europäischer Länder zu uns strömten, doch leider geschieht dies gänzlich umgekehrt.“ Der SC-Abgeordnete fürchtet um die wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit seines Landes, falls der EU-Stabilitätspakt (Für Mirskis` Fraktionskollegen Igors Pimenovs ist das Wort „Stabilitätspakt“ eine Beschönigung einer Politik wirtschaftlicher Härte) in Lettland zum Gesetz wird. Schließlich misstraut er den `Rettungsbemühungen` für Griechenland, Spanien und Italien. Er werde das Gefühl nicht los, dass diese auf Rechnung lettischer Rentner, sozial Bedürftiger, Studenten, Kranker und Erwerbsloser geschehe. „Und das neoliberale Szenario, nach der Europas Rettung erfolgt, verstärkt nur mein Gefühl.“
In Lettland akkreditierte Diplomaten waren zur Debatte geladen, Foto: Ernests Dinka, Saeima
ZZS: Strafzahlungen für die EU und höhere Stromtarife wegen eines Akw
Ähnlich kritisch bewertete die Oppositionsabgeordnete Iveta Grigule (Za?o un Zemnieku savien?ba, Union der Grünen und Bauern, ZZS) die Politik der Schuldenbremse. Auch sie ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Sie befürchtet, dass es doch zu Strafverfahren gegen Lettland kommen könnte, die mit Strafzahlungen `gekrönt` würden. „Doch unverständlich ist, dass es in Lettland keine Debatten mit den Sozialpartnern und – noch wichtiger - mit der Gesellschaft über einen Vertrag gibt, der uns für viele Jahre beeinflussen wird.“ Zudem kritisierte sie die Benachteiligung lettischer Bauern bei den EU-Agrarsubventionen und die Kürzungen im EU-Kohäsionsfonds. Grigule sprach noch über ein weiteres Thema, das die Zusammenarbeit mit dem Nachbarn Litauen betrifft. Sie leugne nicht, wie bedeutsam eine (von Russland) unabhängige Energieversorgung ist. Dennoch unterstütze ihre Fraktion nicht die Art, wie derzeit die lettische Beteiligung am Neubau eines Atomkraftwerks im litauischen Visaginas abgehandelt werde. Man müsse wieder die Aufmerksamkeit darauf richten, dass der Bevölkerung Informationen über die Risiken fehlten. Daher stellte sie sich und ihren Zuhörern zwei Fragen „Erstens: (…) Wie wird sich das Atomkraftwerk auf die Gesundheit und vielleicht sogar auf das Leben der litauischen und lettischen Einwohner auswirken? Zweitens: Wird das Staatsunternehmen „Latvenergo“ überhaupt mit der Verpflichtung, eine Milliarde zu investieren, zurechtkommen? Wurde ausgewertet, wie sich dieser Beschluss auf die lettische Volkswirtschaft auswirkt? Wie dramatisch werden für den Verbraucher die Latvenergo-Tarife erhöht werden, sowohl Privatleuten als auch Unternehmen? Und wird ein Anstieg der Stromtarife nicht die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen verringern?“ Weitere Themen waren die Afghanistanpolitik, der arabische Frühling, lettische Exportchancen in China und Indien, die US-Sicherheitspolitik und die Umweltschutzpolitik für die Ostsee. Die Nationalkonservativen kritisierten den Einfluss der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit auf die lettische Minderheitenpolitik. Ähnlich wie die Sozialdemokraten des SC beurteilen sie den europäischen Wirtschaftsliberalismus skeptisch, ihr Abgeordneter J?nis Dombrava zieht aber andere Schlüsse: "Europa hat sich in letzter Zeit von einer Gesellschaft der Konsumenten und der neoliberalen Ideologie abgewendet, vom allenthalben herrschenden Materialismus und Individualismus, an deren Stelle sind die Familie, das Volk und der Staat zur Priorität geworden." - Neoliberal sind immer nur die anderen.
Externer Linkhinweis:
saeima.lv: Protokoll der Debatte vom 26.1.12
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