Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks weist Vorwürfe gegen Lettland zurück
26.11.2014
Muižnieks ist seit 2012 Menschenrechts-Kommissar des Europarats in Straßburg. Dieser ist eine internationale Organisation mit 47 Mitgliedstaaten. Zu ihnen gehört auch Russland. Wahrscheinlich kommen die meisten Vorwürfe gegen die lettische Menschenrechtspolitik vom großen Nachbarn. Dazu bezog der Politikwissenschaftler am 24.11.2014 auf lsm.lv Stellung. In einem Interview mit der TV-Journalistin Ilze Nagla nahm er sein Heimatland gegen allzu pauschale Vorwürfe in Schutz. Die Webseite der öffentlich-rechtlichen Medien hat Zitate aus diesem Interview auf Englisch veröffentlicht.
Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks, Foto: Saeima auf Wikimedia Commons, Lizenz
Kein Nazismus - doch umstrittene Geschichtsinterpretationen
Einige Anschuldigungen entbehrten jeglicher Grundlage, so die Annahme, dass in den baltischen Staaten eine Wiederkehr oder Glorifizierung des Nazismus` zu beobachten sei. "Dort sind keine Neo-Nazi-Parteien," sagt Muižnieks, räumt aber ein, dass es einzelne Fälle von Antisemitismus und Gewalt gegen Minderheiten gegeben habe, aber keine systematischen und rassistisch motivierten Mordtaten, weder in Lettland noch in den anderen baltischen Ländern. Natürlich gebe es sehr verschiedene und kontroverse Geschichtsinterpretationen, doch es sei unfair, von Rehabilitierung des Nazismus` zu sprechen. Zu den fraglichen Geschichtsdeutungen zählt wohl auch der 16. März, der Tag der SS-Legionäre. Doch in ihm sehen Letten keine Glorifzierung des Faschismus`, vielmehr einen Gedenktag für antibolschewistische Kämpfer. Alljährlich verursacht der umstrittene Gang von der Domkirche zum Freiheitsdenkmal in der internationalen Presse kritische Schlagzeilen - nicht nur in der russischen. Politiker der Nationalen Allianz, die mitregiert, reihen sich sich stets ins Veteranenspektakel ein und riskieren dafür sogar ihr Ministeramt. Denn laut Kabinettsbeschluss ist die Beteiligung von Regierungsmitgliedern am Legionärsumzug untersagt.
Fahnenspalier für lettische SS-Legionäre am 16. März, Foto: LP
Minderheitenschulen für Russischsprachige in der Debatte
Ein weiteres Streitthema zwischen Letten und Russen ist die Staatsbürgerschaft. Nach der wiedererlangten Unabhängigkeit waren etwa 700.000 Einwohner über Nacht ohne regulären Pass. Ein erleichtertes Einbürgerungsverfahren, aber auch Auswanderung, verringerten diese Zahl bislang auf unter 300.000. Muižnieks sieht hier durchaus noch Probleme, würdigt aber die Fortschritte. Jüngste Bemühungen, dass Kinder von Staatenlosen nun leichter den lettischen Pass erhalten, sollten anerkannt werden. Fast 20 Jahre lang habe er sich für die Rechte staatenloser Kinder eingesetzt. Das Gesetz wurde gerade novelliert und nun werden nahezu alle Kinder von Staatenlosen als Staatsbürger registriert. "Das ist ein großer Schritt nach vorn". Besorgt äußert sich Muižnieks über das populistische Thema, die Minderheitenschulen zu schließen. Diese werden vor allem von russischsprachigen Schülern besucht. Auf internationaler Bühne weisen lettische Politiker gern auf das Recht ihrer Minderheiten hin, Schulunterricht in der eigenen Muttersprache in gesonderten Schulen zu erhalten. Diese wurden nach der Staatsgründung von 1918 eingerichtet. Doch vor den eigenen Wählern stellen ihre Parteifreunde Lettlands spezifische Schulform als Übel dar. Minderheitenschulen verstärkten die Teilung der Gesellschaft. In diesen Schulen würde russische Propaganda verbreitet. Die rechte "Nationale Allianz" will sie ohnehin auflösen. Aber auch in der größten Regierungspartei "Vienot?ba" wenden sich so manche Volksvertreter gegen Russisch als Unterrichtssprache. In einer TV-Wahl-Diskussion am Vorabend des 4. Oktobers wurden Minderheitenschulen wie ein Ärgernis abgehandelt, das zu beseitigen ist. Vor der Wahl hatte das damalige Kabinett der wiedergewählten Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma dem Menschenrechtskommissar entsprechende Sorgen bereitet. Eine Schließung der Minderheitenschulen hätte Lettlands Verpflichtungen im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention komplett ignoriert. Zum Glück habe er nichts über solche Bestrebungen in der neuen Regierungserklärung gelesen. Doch die Nationale Allianz hat sich in einem Zusatz zur Koalitionsvereinbarung genehmigen lassen, weiterhin gegen die Unterrichtssprache Russisch anzukämpfen. Laut Muižnieks klagen die Russischsprachigen in den baltischen Ländern weniger über Diskriminierungen als in Finnland, das zeigten verschiedene Erhebungen.
Protestdemo vor der Warschauer Frontex-Zentrale. Die EU-Organisation zum "Schutz" der Außengrenzen soll Flüchtlinge abhalten, Foto: Noborder Network auf Wikimedia Commons, Lizenz
Europas Politiker bereiteten den Nährboden für rechtspopulistische Parteien
In einem weiteren Interview in lettischer Sprache befragte Nagla ihren Landsmann nach seiner Einschätzung der Flüchtlingssituation in Europa. Muižnieks beklagt, wie lange sogenannte "illegale" Flüchtlinge in Haft bleiben. Im Rahmen der Menschenrechte sei ein Gefängnisaufenthalt von einer Woche möglich, wenn man den Gefangenen danach abschieben wolle. Doch Haftzeiten bis zu 18 Monaten seien mit Menschenrechten nicht vereinbar. Es gebe ein unsichtbares zweites Europa, tief im Untergrund. Dort hausten "illegale" Flüchtlinge in verlassenen Häusern in Den Haag, Paris, Rom oder Athen. Häufig könne man diese Menschen gar nicht abschieben, wolle ihren Status aber auch nicht legalisieren. "Das ist ein riesiges, riesiges Problem, das häufig gar nicht sichtbar ist, aber es besteht in wirklich allen Staaten, in denen ich gewesen bin." Also auch in Lettland, das beispielsweise laut zeit.de 2012 offiziell gerade mal 190 Flüchtlinge aufnahm, 0,1 pro Tausend Einwohner. Damit zählt die Baltenrepublik relativ und absolut zu den EU-Schlusslichtern, wenn es um Asylgewährung geht. Lettland sei zwar klein, doch auch hier lebten Flüchtlinge, unsichtbar, im tiefen, tiefen Untergrund, "illegale" Arbeiter ohne Papiere. In lettischen Gefängnissen sitzen nach Muižnieks` Angaben Flüchtlinge für lange Zeit in Abschiebehaft. Nach EU-Recht sind bis zu 18 Monaten erlaubt, dann müssen sie doch wieder entlassen werden. Das halte Flüchtlinge aber nicht davon ab, nach Europa zu kommen. 95 Prozent von ihnen erhielten einen Flüchtlingsstatus. Das bedeute, dass sie nicht aus wirtschaftlichen Gründen aus ihrer Heimat geflohen sind. Muižnieks kritisiert Politiker, die Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge ignorierten. Die traditionellen europäischen Parteien der Konservativen und Sozialisten hätten das Vertrauen und den Kontakt zum Volk verloren, sagt Muižnieks, der selbst einmal in einem konservativen lettischen Kabinett Integrationsminister war. Ihre Korruption, aber auch ihre gescheiterte und mangelhafte Integrationspolitik seien der Nährboden für radikale Parteien, auf dem Ängste und Rassismus wachsen. "Und dann kommt die Wirtschaftskrise, in der alle besorgt sind und das bewahren wollen, was sie haben - und das mit niemandem teilen wollen. Und das hat diesen populistischen Parteien ein sehr fruchtbares Umfeld bereitet."
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Externe Linkhinweise:
zeit.de: Die Trickserei mit den Flüchtlingszahlen
lsm.lv: Neredzam? Eiropa: t?kstošiem neleg?lo imigrantu un b?g?u
lsm.lv: Human rights allegations against Baltics baseless, says watchdo
Atpakaï