Solidarität nur für verstärkte Grenzkontrollen - Auch Letten gegen EU-Flüchtlingsquoten
21.05.2015
Die lettische Regierung will sich als vorbildliche Europäer präsentieren. Sie organisiert als EU-Ratsvorsitzende die Ministertreffen und ist bemüht, zwischen gegensätzlichen Positionen zu vermitteln. Das zeigt sich beispielsweise im Verhältnis zu Russland. Der lettische Außenminister äußert sich vorsichtiger als Politiker aus den Nachbarländern. Aber in der Frage, wer Flüchtlinge aufnehmen soll, die aus dem Mittelmeer gezogen wurden, fühlt sich die Mehrheit der Letten offenbar nicht zuständig. Am 14.3.15 schlug die EU-Kommission ein Quotensystem vor, um Flüchtlinge gleichmäßiger auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Bislang nehmen Deutschland, Schweden, Italien und Frankreich 71 Prozent aller vor Diktatur, Terror, Krieg und Hunger Geflohenen auf - zumindest dann, wenn sie die lebensgefährliche Flucht überstanden, die Frontex-Hürden überwunden haben. Frans Timmermans, Erster Vizepräsident der EU-Kommission, glaubt, dass der neue Verteilschlüssel der europäischen Solidarität eine konkrete Bedeutung gebe. Doch die lettische Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma hat ein ganz spezielles Verständnis davon, was Solidarität bedeutet. Die mitregierende Rechtsaußen-Fraktion der "Nationalen Allianz" lehnt Quoten strikt ab.
Bootsflüchtlinge bei Lampedusa, Foto: „Boat People at Sicily in the Mediterranean Sea“ von Vito Manzari from Martina Franca (TA), Italy - Immigrati Lampedusa. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
Lettische Regierung agiert im Sinne der Nationalen Allianz
Der Vorschlag der EU-Kommissare berücksichtigt mit jeweils 40 Prozent Bevölkerungszahl und Bruttoinlandprodukt eines Landes, mit jeweils 10 Prozent werden die Erwerbslosenquote und der Anteil der Flüchtlinge gewichtet, die ein EU-Staat zwischen 2010 und 2014 aufgenommen hat. Demnach müssten derzeit etwa 220 Flüchtlinge* aus anderen Staaten nach Lettland umsiedeln. Zudem müsste die Baltenrepublik zukünftig 1,2 Prozent aller neu eintreffenden Flüchtlingen eine Bleibe bieten. Der Plan findet in Lettland wie in anderen osteuropäischen EU-Ländern keine Zustimmung. Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma hält Timmermanns ihre Vorstellung von Solidarität entgegen: "Die Koalition ist gewiss für Solidarität, aber wir unterstützen keine Quoten. Solidarität kann sich in anderen Maßnahmen erweisen, beispielsweise in der Verstärkung der Grenzkontrollen oder bei medizinischer Hilfe oder in anderen Fragen," erklärte sie nach der Kabinettssitzung vom 11.5.2015 vor Journalisten. Im Auftrag der Ministerriege solle Innenminister Rihards Kozlovskis die Argumente zusammenstellen, weshalb sich das Kabinett gegen Quoten ausspreche. Diese Ignoranz gegenüber Europas Flüchtlingsproblem ist ganz im Sinne der mitregierenden Rechtsaußenfraktion, der "Nationalen Allianz" (NA), die bereits seit Monaten gegen die Aufnahme von Migranten polemisiert. NA-Abgeordneter Rihards Kols hatte in einer Saeima-Sitzung im Januar gegen Quoten argumentiert: Lettland erfülle sie längst, weil es 260.000 Nichtbürger aufgenommen habe. Damit meinte er die russischstämmigen Einwohner, die als "Nichtbürger" und "Aliens" keinen lettischen Pass haben. Die Zeitschrift "Ir" gab Kols nun Raum, seine Ablehnung des Kommissionsvorschlags kundzutun. Demnach sei dieser übereilt und unausgegoren und für einen großen Teil der Mitgliedstaaten unannehmbar. Jedes Land müsse selber entscheiden können, wievielen Flüchtlingen es Zuflucht gewähre. Kols wirft der Kommission Manipulation vor. Die EU basiere auf Prinzipien der Solidarität und gemeinsamer Verständigung. Manipulation und Nötigung erschüttere gegenseitiges Vertrauen und "Freundschaft" - ein Wort, das Kols in Anführungszeichen setzt. In einer Zeit, in der die EU von mehreren Seiten durch Informationskrieg und Terrorismus bedroht werde, wirke die Idee, alle nach Europa hereinzulassen und sie dann zu verteilen wie ein Gewehr auf der Bühne und auf einmal werde zwangsläufig geschossen.
Ein Container, der für Menschenschmuggel benutzt wird. Derzeit stellen Politiker Schlepperbanden als Hauptschuldige dar, ganz so, als ob es ein verlockendes Event wäre, sich in einem rostigen Kahn oder schwankendem Schlauchboot auf das Mittelmeer zu wagen. Mit dieser Rhetorik verschleiern sie die wirklichen Ursachen, die zu nennen unpopulär wäre, Foto: „Chinasmuggle lg“ von United States Immigration and Customs Enforcement (ICE) - http://www.ice.gov/pi/dro/multimedia/index.htm (hi-res). Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.
Gegen Russen und gegen Flüchtlinge
Die xenophobe Stimmung, die die Nationalkonservativen schüren, zeigt Wirkung. In der LTV-Debatte Sastr?gumstunda, die sich am 13.5.2015 dem Thema widmete, befragten die Redakteure die Zuschauer. Nur 131 gezählte Anrufer bekundeten Solidarität in der Flüchtlingsfrage. 45 waren der Ansicht, dass dies nicht ihr Problem sei. 1145 entschieden sich für das nationalkonservative Argument: Lettland solle keine Flüchtlinge aufnehmen, weil es schon soviele Fremdstämmige (cittautieši) habe, womit nur die russischstämmigen Mitbürger gemeint sein können. Nicht nur die zögerliche Integrationspolitik, auch Lettlands dürftige Sozialleistungen dienen nun als Argument, Migranten gegen andere Gruppen auszuspielen. Tvnet.lv berichtete am 13.5.2015 von Diskussionen in den `sozialen` Netzwerken: Ob es ehrbar und gerecht sei, wenn Flüchtlinge für ihr Kind 76 Euro erhielten, aber "eine lettische Familie für ein in unserem Land geborenes Kind nur 11 Euro?" Auch die Renten werden mit den Ausgaben für potenzielle Migranten aufgerechnet: Während die Rentner, die "in unserem Land leben und ein Leben lang gearbeitet haben", durchschnittlich 248 Euro monatlich erhielten, bekomme ein Flüchtling 256 Euro. Die Befürworter einer humaneren Flüchtlingspolitik sind in der Defensive. Im LTV-Morgenmagazin „R?ta Panor?ma” vom 18.5.2015 warb der lettische EU-Abgeordnete Krišj?nis Kari?š, Mitglied der rechtsliberalen Regierungspartei „Vienot?ba”, für mehr Verständnis. Vielleicht sei auch Lettland einmal auf Solidarität angewiesen, beispielsweise, wenn "wegen der russischen Aggression" Flüchtlingsströme aus der Ukraine die lettische Grenze erreichten. "Wie würden wir uns selber fühlen und reagieren, wenn als Ergebnis der russischen Feindseligkeiten plötzlich 10.000 Ukrainer an unserer Grenze wären? In diesem Fall möchten wir sicherlich die Solidarität des übrigen Europas, das uns hilft. Ähnlich fragt man gerade auch uns, um solidarisch in der Situation zu helfen, in der man sich am Mittelmeer befindet." Für Kari?š hat das Verhalten in dieser Frage eine symbolhafte Bedeutung. Zudem schätzt er die Zahl der Flüchtlinge, die Lettland nach dem Quotensystem aufnehmen müsste, als gering ein. Kritik ernten die Brüsseler Quotierungspläne zudem von gänzlich anderer Seite. Die Organisation "Pro Asyl" wertet sie als "heiße Luft": "Durchgesetzt werden am Ende wohl vor allem die Stärkung von Frontex und die Militarisierung der Außengrenzen. Leidtragende sind weiterhin die Flüchtlinge." Die Organisation fordert, dass die Flüchtlinge selber entscheiden, in welchem Land sie Zuflucht suchen, warum solle ein Syrer, dessen Schwester seit zehn Jahren in Bochum lebt, Estland zugeteilt werden?
*Zusatz vom 30.5.15: Neuere Presseberichte weisen darauf hin, dass zusätzlich Flüchtlinge aus Griechenland und Italien umgesiedelt werden sollen, so dass die Gesamtzahl mehr als 700 Menschen betrifft.
Externe Linkhinweise:
proasyl.de: EU will Quoten und Militäreinsatz: Warme Worte, harte Taten
lsm.lv: Sastr?gumstunda. K? Latvija pal?dz?s Vidusj?ras b?g?iem?
lsm.lv: Kari?š: B?g?u jaut?jumam Latvij? ir simboliska noz?me
tvnet.lv: Ar ko b?g?u b?rns lab?ks par latviešu? B?g?i Latvij? sa?em 7 reizes liel?ku summu
tvnet.lv: Latvija iebild?s pret b?g?u kvotu ieviešanu ES
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