Lettland: Sozialminister J?nis Reirs unterzeichnet Istanbuler Konvention
19.05.2016
Debatten um das „soziale Geschlecht“
J?nis Reirs hat am 18.5.2016 in Sofia die Istanbuler Konvention unterzeichnet, die 2011 von 13 Staaten beschlossen wurde. Lettland ist eines der wenigen Länder, die sich diesem „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ bislang fernhielten. Von den 47 Mitgliedstaaten der Straßburger Organisation bleiben nun noch Armenien, Aserbaidschan, Liechtenstein, Moldau und Russland, die nicht unterschrieben haben. Das lettische Kabinett stritt in den letzten Wochen über die Konvention, beschloss dann am 10.5.2016, sie zu unterzeichnen. Zwei Minister der Nationalen Allianz (NA) lehnen sie weiterhin ab. Nach Ansicht des Justizministers Dzintars Rasna?s (NA) ist das Übereinkommen nicht mit der lettischen Verfassung vereinbar. Er prophezeit, dass die Konvention von der Saeima nicht ratifiziert werde.
Die Brigantessa Michelina De Cesare, Foto: Unbekannt - http://www.viselli.it/brigantaggio.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2252499
Sozialministerium stellt überdurchschnittlich viel familiäre Gewalt fest
Reirs lässt sich auf der Webseite seines Ministeriums zitieren: „Es ist notwendig, sämtliche Aktionen, die Gewalt verhindern, wahrzunehmen – sei es international, um die eigenen politischen Verpflichtungen aufzuzeigen, sei es in der Verwirklichung effektiver Maßnahmen, die den Frieden in jeder Familie sicherstellen. Ich bin der Ansicht, dass die Istanbuler Konvention ein bedeutendes Mittel im Kampf gegen die Gewalt ist.“ Er unterstützt die Ziele des Abkommens: Frauen sollen nicht mehr diskriminiert, den Männern gleichgestellt werden. Die Unterzeichner-Staaten beabsichtigen, Frauen und Kinder besser vor männlicher Gewalt in den Familien zu schützen. Die Staaten verpflichten sich zur internationalen Zusammenarbeit, um Gewalt und Diskriminierung zu bekämpfen. Hilfsorganisationen und Rechtsinstanzen sollen zu diesem Zweck kooperieren. Für den Sozialminister der liberalkonservativen Partei Vienot?ba bietet das Abkommen die Chance, die rechtlichen Rahmenbedingungen im eigenen Land zu verbessern. Die Konvention sieht Präventivmaßnahmen, Beistand für Opfer und Rehabilitation der Täter vor. Das Sozialministerium beziffert für Lettland überdurchschnittlich viel familiäre Gewalt: Etwa 30 Prozent aller Frauen und ein ebenso hoher Anteil der Kinder seien Opfer gewalttätiger Partner bzw. Väter. In einem Jahr töten lettische Männer durchschnittlich fünf Ehefrauen bzw. Lebensgefährtinnen, 100 Frauen kommen nach familiärem Streit mit Verletzungen ins Krankenhaus.
Ein Dokument des radikalen Feminismus`?
Justizminister Rasna?s (NA) hält die Angaben des Sozialministeriums für übertrieben. Er bezweifelt, ob familiäre Gewalt in Lettland verbreiteter ist als in Ländern, die die Konvention ratifizierten. Zwar hält er die Ziele größtenteils für richtig, gibt aber zu bedenken, dass Teile des Übereinkommens der lettischen Verfassung widersprächen. Die Nachrichtenagentur LETA nennt die Argumente des nationalkonservativ geführten Ministeriums: Die Istanbuler Konvention ignoriere „offen“ Paragraph 112 der Verfassung, der das Recht auf Bildung und Schulbildung festschreibt, zudem die Elternrechte bei der Ausbildung ihrer Kinder, die in internationalen Dokumenten garantiert seien und auch die Religionsfreiheit, welche untrennbar mit dem Recht verbunden sei, die eigenen Kinder im Sinne der eigenen religiösen Überzeugung und philosophischen Ansichten zu erziehen. Grundlage von Rasna?s` Kritik ist ein Gutachten, das er für 3000 Euro in Auftrag gab und das als PDF-Datei auf der Webseite seines Ministeriums zu lesen ist. Gutachterin Baiba Rudevska bewertet die Konvention als ein Dokument des radikalen Feminismus`, das nicht der lettischen Verfassung gemäß sei. Im dritten Kapitel ihres Textes befasst sie sich mit der „Ideologie“ und kritisiert den Gender-Begriff, der in der Konvention benutzt wird. Er sei eine Erfindung postmoderner westlicher Wissenschaftler, die sich auf neomarxistische Geschichtsinterpretationen stützten. Der radikale Feminismus basiere darauf. Das Wort „gender“, das sich mit „sozialem Geschlecht“ übersetzen lässt, betont den sozialen und kulturellen Anteil am Rollenverhalten der Geschlechter. Konservative halten dagegen „typisch männliches“ und „typisch weibliches“ Verhalten für naturbedingt. Laut Rudevska habe der radikale Gender-Feminismus lediglich die Absicht, Frauen gegen Männer aufzuhetzen und Familien durcheinander zu bringen. In der Folge dieser nationalkonservativen Vorbehalte verbreiteten sich Gerüchte: Die Konvention legalisiere die gleichgeschlechtliche Ehe, fördere Polygamie sowie Gemeinschaftstoiletten für Männer und Frauen.
Equality March am 6. Mai 2012 in Moskau, "Gleiches Recht - ohne Kompromiss" - Foto: Tribunus in der Wikipedia auf Russisch - http://ru.wikipedia.org/wiki/????:Marshravenstva.jpg, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20254449Argumente aus russischen Quellen
Das Sozialministerium nahm seinerseits am 28.4.2016 zu Rudevskas Gutachten Stellung. Es sei fehlerhaft und tendenziös. Die Schlussfolgerung, die Konvention diskriminiere Männer als potenzielle Gewalttäter, entspreche nicht den Tatsachen. Statt dessen sei sie das einzige internationale Dokument, das nicht nur Gewalt gegen Frauen berücksichtige, sondern auch Gewalt in der Familie, auch jener, die sich gegen männliche Familienmitglieder richte. Qualitätsmängel stellt das Sozialministerium auch in Rudevskas Sprachgebrauch fest. Der Begriff “gender vienl?dz?ba”, Gender-Gleichheit, existiere in der juristischen lettischen Terminologie nicht. Möglicherweise ergäben sich die Sprachprobleme, weil Argumente aus sekundären Quellen des Internets benutzt wurden. Dort seien Texte in russischer Sprache zu finden, die sich mit dem Wort “??????”, gender, in der Gesetzgebung der Russischen Föderation auseinandersetzten sowie Ansichten russischer Nichtregierungsorganisationen zu diesem Thema. Ieva Jaunzeme, Staatssekretärin des Sozialministeriums, äußert am Ende der Erklärung ihr Unverständnis, weshalb die Kollegen des Justizministeriums die Istanbuler Konvention ablehnten und sich dabei auf ein „unqualifiziertes“ Gutachten stützten.
Europäische Staaten mit rechtspopulistischen (und tw. rechtsextremen) Parteien. Blau: Im Nationalparlament, Dunkelblau: Regierungsbeteiligung - Foto: Unbekannt - en.wikipedia.org, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26081861Die Hassliebe lettischer Nationalisten auf und zu Putin
Eigentlich gelten lettische Nationalkonservative als erbitterte Widersacher Russlands. Doch ihren Antiliberalismus teilen sie mit der russischen Regierung, die bislang ebenfalls die Istanbuler Konvention nicht unterzeichnete. Ir-Kommentator Aivars Ozoli?š überschrieb seinen Text zum Thema: "Der Krieg der `Nationalen` gegen den Westen". Damit meint er den gemeinsamen Kampf russischer und lettischer Nationalisten gegen den westlichen Liberalismus. Sogar Raivis Dzintars, Anführer des radikalsten Teils der NA, habe 2014 beschwichtigt: Russland werde Lettland nicht mit Panzern angreifen. Ozoli?š zitiert Dzintars weiter: Während Russland von starken Familienwerten rede, böten lettische Politiker Karl an, sich in Karla zu verwandeln. Dzintars betreibe faktisch dasselbe, was Wladimir Putin als nationale Staatsideologie ausgebe, wobei dessen "konservative Vision für das Volk" ein Potemkinsches Dorf sei: Russland habe weltweit die zweitgrößte Zahl an Abtreibungen und nur 17 Prozent der Bevölkerung besuchten mindestens einmal pro Monat einen Gottesdienst. In Lettland dürfte die Zahl der Gläubigen ähnlich gering ausfallen: Dennoch bemühen auch lettische Nationalisten die christlichen Werte, um ihre Position moralisch zu rechtfertigen. Obwohl lettische Patrioten dem Treffen rechtsradikaler Parteien im letzten Sommer in Sankt Petersburg ferngeblieben seien und sie wahrscheinlich auch nicht wie der französische Front National von russischen Banken finanziert würden, ständen sie im Krieg gegen sogenannte "Kulturmarxisten", "Sorosisten" und "liberale Totalitaristen" an der Seite Putins. Das erlaubt ungeahnte Koalitionen. Justizminister Rasna?s (NA) vertraut darauf, dass die Istanbuler Konvention in dieser und in der nächsten Saeima nicht ratifiziert werde. Ozoli?š vermutet, die Nationalkonservativen könnten darin Beistand von der größten Saeima-Fraktion, der oppositionellen Saska?a, erhalten. Diese sozialdemokratische Partei kooperiert mit Putins Partei „Einiges Russland“. Die Nationalkonservativen regieren eigentlich deshalb mit, um Saska?a von der Macht fernzuhalten. Eine Saska?a-Abgeordnete hat aber bereits ihre Weigerung bekundet, der Konvention zuzustimmen. Auch aus anderen Fraktionen äußerten sich einige Parlamentarier ablehnend. Doch die Saska?a-Politik entspricht nicht eins zu eins den russischen Positionen. Zum Flüchtlingsthema äußern sich Saska?a-Politiker beispielsweise weitaus toleranter als lettische Nationalisten. Eine E-Mail-Anfrage der Lettischen Presseschau, ob Saska?a-Abgeordnete mit den Nationalkonservativen gegen die Istanbuler Konvention stimmen werden, ließ das Parteibüro unbeantwortet.
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Externe Linkhinweise:
irlv.lv: «Nacion??u» karš pret Rietumiem
delfi.lv: Reirs Latvijas v?rd? paraksta Stambulas konvenciju
kasjauns.lv: No dz?vesbiedra vardarb?bas Latvij? cieš 32% sieviešu
tm.gov.lv: TM un VARAM ministru atseviš?ais viedoklis par Stambulas konvenciju 10.05.2016
diena.lv: LM anal?z? kritiz?ja TM pas?t?t?s Stambulas konvencijas izv?rt?jumu
lsm.lv: Vald?ba piekr?t parakst?t Stambulas konvenciju; NVO prasa v?rt?t Rasna?a atbilst?bu amatam
Atpakaï