Lettisches Parlament stimmt gegen den UN-Migrationspakt
07.12.2018
„Lettland darf nicht selbst Selbstmord begehen!“
Nach lebhafter Debatte hat die lettische Saeima am 6. Dezember 2018 eine Resolution (saeima.lv) verabschiedet, welche die Regierung auffordert, dem UN-Migrationspakt nächste Woche in Marrakesch nicht zuzustimmen. Die Nationale Allianz hatte die Debatte beantragt und gleichzeitig die Resolution eingebracht. Während die Befürworter der Resolution, also Gegner des UN-Pakts, bemängelten, dass Migration in dieser internationalen Vereinbarung zu positiv dargestellt werde und die nationale Souveränität langfristig gefährdet sei, betonten die Befürworter des UN-Pakts, also die Gegner der Resolution, die Unverbindlichkeit des Ausgehandelten und die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit. Zudem warnten Letztere davor, dass eine Ablehnung des Migrationspakts Lettlands Ruf schade und es international isolieren könne (saeima.lv). Nur 74 Abgeordnete des 100köpfigen Parlaments beteiligten sich an der Abstimmung, davon stimmten 43 für die Resolution der Nationalen Allianz und 31 dagegen. Damit zeichnet sich in der gerade gewählten Saeima eine Mehrheit für nationalkonservative Gesinnungen ab, die nicht nur von den bisherigen Regierungsparteien Nationale Allianz (NA) und Union der Grünen und Bauern (ZZS), sondern auch von den neu vertretenen Parteien Wem gehört das Land? (KPV) und der Neuen Konservativen Partei (JKP) geteilt werden. Die Debatte verdeutlichte, dass man von nationalkonservativer Seite aktuelle Migrationsfragen aus der Sicht der eigenen sowjetischen Vergangenheit betrachtet.
Saeima-Plenarsaal, Foto: Inga Abele, saeima.lv
Die Argumente der Migrationspaktgegner
Abgeordnete Linda Ozola (JKP) formulierte zu Beginn der Debatte ihr Unbehagen, dass der UN-Pakt in der lettischen Gesellschaft nicht genügend diskutiert worden sei. Sie machte dafür die zuständigen Ministerien und die Regierungsparteien verantwortlich. Ihre Partei habe sich gegen den Pakt entschieden, weil die Frage nach der Aufnahme von Flüchtlingen in der Verantwortung des Nationalstaats liege und ihre Partei sich strikt gegen die Aufnahme nicht geeigneter Migranten und „sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge“ wende.
Etwas später kam sie auf historische Erfahrungen zu sprechen, die man nicht vergessen dürfe. Lettland habe eine brutale Migration erlebt, zielgerichtete sowjetische Umsiedlungen, die die Genfer Konvention von 1949 zum Schutz von Zivilisten in Kriegszeiten missachtet hätten. Ozola erinnerte daran, dass sich durch die sowjetische Migrationspolitik der lettische Anteil an der hiesigen Bevölkerung bis 1989 auf 52 Prozent vermindert hatte und derzeit 60,2 Prozent beträgt. Für die Letten habe die Gefahr bestanden, zur Minderheit im eigenen Land zu werden. „Und daher, Kollegen, machen wir uns bewusst, was Ihnen gewiss auch Wissenschaftler bestätigen, dass soziologisch die Möglichkeit, in die Gemeinschaft eines Volkes oder einer Gesellschaft andere Kulturen aufzunehmen und zu integrieren, begrenzt ist. Und im Falle Lettlands ist diese Proportion leider schon längst durcheinander gebracht.“
Auf den Einwand, dass Lettland als einziges Land unter baltischen und skandinavischen Nachbarn den UN-Pakt ablehnen und sich damit isolieren könnte, entgegnete die JKP-Politikerin, dass, von Estland abgesehen, mindestens 80 Prozent der Einwohner jener Länder einen indigenen Bevölkerungsanteil hätten, für den sich im Lettischen der Begriff „pamatnacija“ eingebürgert hat, was in etwa „Grundnation“ bedeutet. Ozolas Einschätzung verdeutlicht, dass sich große Teile der „Pamatnacija“ mit den Folgen sowjetischer Migrationspolitik bis heute nicht abgefunden haben und die russischsprachige Minderheit, die nun bereits in zweiter oder dritter Generation auf lettischem Territorium lebt, immer noch mit Migranten gleichgesetzt werden.
Auch Aleksandrs Kirsteins (NA) äußerte sich in diesem Jargon. Der Abgeordneten Voika, die den UN-Pakt befürwortet, empfahl er, durchs Fenster auf die Straße zu blicken „und Sie werden sehen, dass Riga die einzige Hauptstadt der Welt ist, wo die Hälfte der Einwohner Migranten sind, die sich hier einfanden, als Lettland ohne Aufforderung der lettischen Bürger [im Jahr 1940 von der UdSSR] okkupiert wurde, ohne Erlaubnis der lettischen Bürger.“ Mit „Migranten“ bezeichnet Kirsteins größtenteils die russischsprachigen Mitbürger Rigas.
Auch wenn der Migrationspakt von Migranten und nicht von Flüchtlingen handelt, erinnerte Kirsteins an die jüngsten Flüchtlingsbewegungen und die Schließung der Balkanroute durch Ungarn. Er habe sich damals auf einer NATO-Veranstaltung in Bosnien-Herzegowina befunden. Eine Studentin habe ihm erzählt, dass unter fast 300.000 Flüchtlingen sie nur eine Familie mit Kindern gesehen habe. Der ganze Rest seien kräftige Männer zwischen 20 und 30 Jahren gewesen, allen seien die Papiere abhanden gekommen und alle hätten sich Mohammed genannt und alle hätten einen Vater oder Bruder in Berlin gehabt, wohin sie sich begeben wollten.
Parteifreund Janis Dombravs hat einen ähnlich skeptischen Blick auf Fremde, die ins Land wollen, betrachtet sie vor allem als Terrorproblem: „Frau Voika erwähnte, dass sie sich ein sicheres Lettland wünscht. Nach meiner Meinung leben wir derzeit bereits in einem sicheren Lettland. Im Unterschied zu anderen europäischen Staaten, die in den letzten Jahren Migration aus Ländern der Dritten Welt erlebten, kann Lettland froh sein, dass der globale Terrorismus an uns vorüber ging. Aber viele Länder – Belgien, Frankreich, Deutschland – waren nicht so glücklich, dieser Terrorismuswelle zu entkommen. Der Terrorismus, den Personen mit Immigrantenabstammung mit sich brachten, unabhängig davon, ob sie nun aus Marokko oder anderen Ländern der Welt einwanderten, haben unzählig viele Europäer getötet. Und in dieser Situation bin ich nicht der Ansicht, dass Lettland weiter diesen Weg gehen muss, den irrtümlicherweise andere Staaten Europas gewählt haben.“
Karina Sprude (KPV) fand Flüchtlinge oder Migranten ähnlich gefährlich und nannte Deutschland als abschreckendes Beispiel, bediente dazu noch das Klischee vom fleißigen Deutschen und anmaßenden Migranten: „Über Deutschland, das eines der begehrtesten Zielländer von Asylbewerbern darstellt und eine der größten Mengen von Asylbewerbern aufgenommen hat, belegt die Statistik, dass im vergangenen Jahr illegale Migranten 27 Morde oder Mordversuche verübten, aber ganze 447 Morde oder Mordversuche gerade von jenen Migranten begangen wurden, die sich legal aufhielten oder die eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten. Gerade in Deutschland, sowohl in Chemnitz als auch in anderen Städten, wo große Flüchtlingszentren bestehen, erfolgen regelmäßig Proteste und verschiedene Demonstrationen, auf denen Flüchtlinge ein ähnliches Lebensniveau einfordern, welches die ansässigen Einwohner aufweisen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, um es zu erreichen.“
Dagmara Beitnere-Le Galla (JKP) nutzte gleichfalls die Gelegenheit, um über Flüchtlinge zu reden und warnte vor einer Islamisierung Europas durch deutsche Politik: „Wir haben gerade 2015 erlebt, als Merkel, der niemand ein Mandat erteilt hatte, `willkommen` sagte und was wir [dann] in der europäischen Gemeinschaft erlebten.“ Lettland [das damals der EU zusagte, etwa 700 Geflüchtete aufzunehmen, eine Zusage übrigens, die nicht ganz erfüllt wurde. Die Nationale Allianz opponierte damals entschieden gegen die Aufnahme jeglicher Flüchtlinge, U.B.], habe sich auch an diesem Projekt beteiligt und sehen müssen, dass kein Dokument arglos sei. Sie selbst habe damals Lettlands Präsenz am Verhandlungstisch befürwortet, wo auch über das eigene Schicksal entschieden worden sei. Doch Lettland dürfe sich keinen äußerst schlecht ausgearbeiteten Dokumenten anschließen, womit Beitnere-Le Galle den UN-Pakt meinte.
Nach ihrer Auffassung sieht der UN-Pakt für die Migranten auch Rechte vor, im Zielland die eigene Sprache zu benutzen. Die lettische Gesellschaft habe vor sechs Jahren „auf eigener Haut gespürt“, was das bedeute. Damals hatten Aktivisten, die Russisch als zweite Staatssprache zulassen wollten, ein Referendum organisiert. Doch die stimmberechtigten Einwohner lehnten es mit großer Mehrheit ab. Ähnliche Bedrohungen für die „Pamatnacija“ projizierte die JKP-Abgeordnete auf den Migrationspakt und schloss ihre Ausführungen mit den dramatischen Worten: „Verehrte Kollegen! Ich fordere Sie auf, nicht nur aus klaren, guten oder sonstigen Vernunftgründen, sondern auch mit Gewissen abzustimmen. Lettland darf nicht selbst Selbstmord begehen!“
Die Argumente der Migrationspaktbefürworter
Zu den Fraktionen, die Lettlands Zustimmung zum Migrationspakt forderten, zählten neben den liberalen Parteien Neue Einigkeit (JV) und Für Entwicklung/Pro! (AP!) auch die sozialdemokratische Eintracht (S) als größte Parlamentsfraktion.
Inese Voike (JV) betonte die Unverbindlichkeit des Paktes, dagegen zu stimmen sei eine populistische Politik, weil die internationale Vereinbarung die nationalen Rechte, selbst über Migrationsfragen zu entscheiden, nicht beschränke.
Marija Gollubeva (AP!) wies auf die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit hin: „Dieses Dokument verdeutlicht unsere Haltung zur Zusammenarbeit mit den eigenen Partnern in der Welt, um globale Probleme zu lösen. Ob es unsere Absicht ist, das einzige unter den baltischen Ländern zu bleiben, das Ängsten gestattet, die Oberhand über ein verantwortliches Verhalten zu gewinnen, das wählt, beiseite zu stehen, wenn andere gemeinsam bestrebt sind, Migrationsfragen zu lösen? Sowohl Estland [nach heftiger Debatte] als auch Litauen haben die UN-Migrationserklärung unterstützt.“
Ojars Eriks Kalnins (JV) sprach Themen an, die auch von Nationalkonservativen befürwortet werden: „Beispielsweise gehört es zu den wichtigsten Zielen des UN-Pakts, ein integriertes, sicheres und abgestimmtes Management der Grenzen zu sichern. Zugleich erwähnt der Pakt auch die Bekämpfung des Bandenwesens, Migrantenerfassungsprozeduren und andere für Lettland recht bedeutsame Angelegenheiten.“
Boris Cilvecics (S) betrachtete Migration grundsätzlicher als Möglichkeit des demographischen Ausgleichs zwischen Ländern mit einer rasch größer werdenden Zahl junger Einwohner und jenen mit einer alten, sich verringernden Bevölkerung. Er erwähnte Deutschland, das einst Türken ins Land lud, weil zur weiteren Wohlstandsvermehrung Arbeitskräfte fehlten.
Der sozialdemokratische Politiker wertete es als weit verbreitetes Stereotyp, Migranten lediglich als Last anzusehen. „In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt. Immigranten sind für die Wirtschaft von Vorteil, zynisch gesprochen sind illegale Immigranten für die Wirtschhaft von doppeltem Vorteil.“ Er erwähnte Alan Greenspan, der bis zur Finanzkrise die US-Zentralbank Federal Reserve geleitet hatte und dann zurückgetreten war. In seiner Abschiedsrede habe er sich bei Millionen illegaler Migranten bedankt, die der us-amerikanischen Wirtschaft zu unschätzbaren Gewinnen verholfen hätten, „genügsame, fleißige Arbeitskraft, die bereit ist, für einen Groschenlohn zu arbeiten und nichts einfordert, ist kein allzu visionärer Traum des Unternehmers. Aber nicht regulierte Migration ist natürlich mit ernsthaften Problemen und Risiken verbunden. Massenweise Verletzung der Menschenrechte, organisierte Kriminalität, Menschenhandel, Korruption. Das Ziel des UN-Vertrags [kein Vertrag im engeren Sinne] ist nicht, Migration zu bewirken, wie es die Antragsteller der Resolution lehren, auf diese Art die Gesellschaft in die Irre führend, sondern sie zu regeln.“
Der UN-Pakt beschäftige sich mit Themen, an denen Experten schon lange arbeiteten. Die Hauptressource in der heutigen Welt seien die Gehirne, um die ein internationaler Konkurrenzkampf entfacht sei. Migration sei eine der effektivsten Methoden, an diese Ressource zu gelangen. „Folglich gewinnt jener, der an diese Ressourcen gelangt, in der globalen Konkurrenz und Lettland verliert derzeit deutlich in diesem Wettbewerb.“
Der UN-Pakt habe keine Auswirkungen auf die nationale Souveränität, meinte Cilvecics. „Folglich bestimmt die Zustimmung oder Ablehnung des Vertrags einfach die Haltung des Landes gegenüber der globalen Strategie in diesem Bereich. In allen Staaten, die den Vertrag ablehnen, stellten sich Xenophobiker, Euroskeptiker, Isolationisten, Populisten, Befürworter verschiedener Verschwörungstheorien ein, kurz gesagt, all jene, die sich vor der wachsenden Offenheit und Vielfalt in der heutigen Welt fürchten.“
Schließlich fügte der Sozialdemokrat, dessen Fraktion in der lettischen Öffentlichkeit den zweifelhaften Ruf hat, einer „Pro-Kreml-Partei“ anzugehören, Denkwürdiges hinzu: „Um diese zu verbergen, sind sie bereit, hohe Zäune auf ihren Grenzen zu errichten und ernsthafte wirtschaftliche Verluste zu erleiden. Gegen den Vertrag wenden sich nur Politker wie Viktor Orban oder Wladimir Putin. Und die Antragssteller fordern uns auf, dass wir uns geradewegs in diese Kompanie einreihen.“
Cilvecics` Parteifreund Igors Pimenovs beschloss geradezu mit Abscheu erfüllt die Debatte. Er werde die „sehr archaische“ Resolution der Nationalkonservativen nicht unterstützen. „Dennoch muss man den Urhebern der Resolution dafür danken, dass sie die unterbewussten Winkel unserer politischen Kreise beleuchtet haben, wie man auch dem UN-Pakt dafür danken muss, dass er den Nerv der lettischen Politik getroffen hat.“
Atpakaï