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Am 25. März 1949 deportierten Tschekisten mehr als 94.000 Balten nach Sibirien
25.03.2023


Für Kulaken war im sowjetischen Kommunismus kein Platz

Hilde Vika, Die Deportierten, Foto: Fair use, Saite

An manchen Tagen sieht man an Häusern Rigas die lettische Flagge mit Trauerflor. Die Immobilienbeitzer sind gesetzlich verpflichtet, sie zu hissen. Auch am 25. März wehen sie an öffentlichen Gebäuden, an den Plattenbauten und den privaten Wohnhäusern. Die Letten erinnern sich an die traumatischen Ereignisse ihrer Geschichte. Vor 74 Jahren organisierten Vertreter des stalinistischen Regimes zum zweiten Mal nach 1941 eine Massendeportation in entfernte Regionen der UdSSR, hauptsächlich nach Sibirien (enciklopedija.lv).


Die sowjetische Regierung hatte die Aktion viele Monate zuvor geplant. Am 29. Januar 1949 beschloss der Moskauer Ministerrat in geheimer Sitzung, “feindliche Elemente” aus den baltischen Ländern zu entfernen. Betroffen waren sogenannte “Kulaken”, also Bauern mit etwas Besitz, die sich weigerten, in eine Kolchose einzutreten, “Banditen”, also Oppositionelle Stalins, aber auch Familien von bereits Verurteilten und Hingerichteten, zudem gerieten Familienangehörige, die Oppositionelle unterstützten und deckten, ebenfalls ins Visier der Tschekas,.


Am 17. März 1949 folgte die sowjetische Regionalregierung Lettlands der Moskauer Anweisung und fasste den Beschluss “Über die Deportation der Kulaken aus der Lettischen SSR”. Am 23. März trafen 4.500 Rotarmisten aus anderen Regionen der UdSSR ein, um mit Geheimdienstmitarbeitern und Parteikadern vor Ort den Abtransport durchzuführen. Insgesamt beteiligten sich mehr als 76.000 Soldaten, Parteimitglieder und Mitglieder des NKWD an der Verschleppungsaktion, die die baltische Bevölkerung einschüchtern sollte. Trotz der Geheimhaltung verbreitete sich das Gerücht, dass Stalin wieder eine Massendeportation geplant hatte und manchem Regimegegner gelang es, sich vor den Verfolgern zu verstecken.  


Angeblich sollten Kinder und behinderte Familienmitglieder von der Deportation verschont bleiben, wenn sie wollten. Doch faktisch nahmen die Vertreter des sowjetischen Geheimdienstes NKWD jeden mit, den sie in einer Wohnung vorfanden. Laut Regierungsbeschluss hatten die Betroffenen das Recht, Gegenstände bis zu einem Gewicht von 1500 Kilogramm mitzunehmen; das sonstige Vermögen wurde konfisziert. Meistens blieb aber gar nicht die offiziell gewährte Zeit von einer Stunde, um bei den nächtlichen Heimsuchungen Wertsachen zusammenzupacken.


Etwa die Hälfte der im Baltikum Festgenommenen stammte aus Lettland. 42.149 Lettinnen und Letten, Junge und Alte, Gesunde, Behinderte und Kranke wurden in 31 Züge verfrachtet, die irgendwo in den Weiten des sowjetischen Territoriums endeten: Die meisten Deportierten kamen in die Region von Irkutsk am Baikalsee; andere nach Omsk, Tomsk, Krasnojarsk oder Novosibirsk. Noch weiter wurde der Weg für mehr als 5000 lettische Deportierte, deren Zug erst am Fluss Amur an der Küste des Pazifik Endstation hatte.  


Bereits während des Transports starben 183 Menschen, die in Viehwaggons transportiert wurden. Mehr als ein Zehntel aller Deportierten starb unter den prekären Lebensumständen der Gulag-Lager. Die meisten sollten unter brutalen Arbeitsbedingungen und miserabler Verpflegung Gold schürfen, andere mussten sich in der Holzwirtschaft verdingen. 953 Festgenommenen wurde verlautbart, dass sie fortan lebenslänglich ins Gefängnis gesperrt würden.


Während ab dem 25. März 1949 Tausenden Letten eine ungewisse Zukunft in der Ferne bevorstand, organisierten die Parteikader für die Landbevölkerung Festveranstaltungen in den Kulturhäusern (jauns.lv). Die Menschen wurden mit Theater und Tänzen abgelenkt, die Kinder erhielten schulfrei. Laut sowjetischen Zeitungskommentaren war nun die Phase des Sozialismus abgeschlossen und der Weg zum Kommunismus beschritten. In ihm hatten Kulaken keinen Platz: Falls sie sich als Privatbauern weigerten, einer Kolchose beizutreten, war dies die Bekundung einer antisowjetischen Einstellung. Entschlossen sie sich aber, einem solchen landwirtschaftlichen Kollektiv beizutreten, wurde ihnen die Aufnahme verweigert, weil sie eine störende und zerstörende Einstellung hätten - die Logik einer Diktatur.


1957 wurden die Deportierten in der Chruschtschow-Ära amnestiert. Sie durften nach Lettland zurückkehren. Doch die Rehabilitation blieb halbherzig. Die Betroffenen wurden weiter diskriminiert, durften häufig nicht den Beruf ausüben, den sie sich wünschten oder ihnen wurde verwehrt, wieder am Heimatort zu leben. Diese Benachteiligung und der Mangel an dem, was sich in unbeholfener Sprache “Wiedergutmachung” nennt, verbittert bis heute und gehört zum historischen Hintergrund der zerrütteten Beziehungen zwischen Lettland und Russland.


Udo Bongartz 




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