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Asja Lacis: “Revolutionär im Beruf”, Teil 2
23.07.2021


Mit Walter Benjamin in Italien

Gemalter Ausbruch des Vesuvs bei Nacht, Foto: Pubblico dominio, Collegamento

 

Die Regisseurin und Schauspielerin Asja Lacis hat in ihrem Leben häufig den Wohnort und das Land gewechselt, der Liebe wegen, auf der Flucht vor Polizei und Gefängnis, wegen eines Engagements an einem Theater. Den Frühjahr und den Sommer 1924 verbringt sie aber aus einem anderen Grund im faschistischen Italien und trifft dort erstmals den Gesinnungsgefährten Walter Benjamin, dem sie freundschaftlich verbunden bleibt. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten zeichnen sich zwischen der revolutionären Entschiedenheit Lacis` und der poetischen Haltung Benjamins auch die Gegensätze ab.



FRAGLICHE BEGEGNUNG


Nicht nur die unter deutschsprachigen Intellektuellen verbreitete Vorliebe für Italien, auch der Rat der Ärzte bewegte das Paar Lacis/Reich dazu, Frühjahr und Sommer 1924 nach Zwischenstationen in Rom und Neapel auf Capri zu verbringen: In der sauberen Mittelmeerluft sollte Lacis` Tochter Dagmar ihre Lungenentzündung auskurieren, im dionysischen Ambiente:  


Wir wohnten in einem Häuschen, das ganz von dichtem Weinlaub eingeschlossen war. In der Nacht sah man deutlich den Gipfel des Vesuvs und manchmal ein Glühen.”1


Obwohl Hitlers Vorbild Benito Mussolini schon zwei Jahre regierte, kümmerte es die links gesinnten Intellektuellen offensichtlich nicht, in einem faschistischen Land zu leben, dessen Führer den sozialistischen Aufstand am Kriegsende besiegt und die kapitalistische Ordnung im Gewand der Schwarzhemden gerettet hatten. Die Diktatur war schon installiert, erste Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter bereits ermordet. Ein Höhepunkt faschistischer Gewalt bedeutete der Mord an den sozialistischen Parteisekretär Giacomo Mateotti am 10. Juni 1924 in Rom. Darüber liest man nichts in Lacis` Erinnerungen.  


Asja Lacis und Bernhard Reich hatten damals keine Hemmungen, auf der idyllischen Urlaubsinsel Filippo Tommaso Marinetti zu besuchen, “in einer Villa in einem großen schönen Park”. Marinetti war Anführer des italienischen Futurismus` und dionysisch mit dem Faschismus verbunden: Sein futuristisches Konzept, Technik und Gewalt zu verherrlichen, machten ihn zum Verbündeten Mussolinis. Die beiden lauschten, wie Marinetti die Poesie seines nationalistischen Kollegen Gabriele d`Annunzio deklamierte, jenes Literaten, der als Anführer von Freischärlern am Kriegsende für einige Monate die Adria-Stadt Fiume (heute Rijeka in Kroatien) besetzt gehalten und faschistisches Regieren vorweggenommen hatte.  


Das anti-(klein)bürgerliche, teils dem Bolschewismus entlehnte progressive Design von Futurismus und Faschismus trübte Lacis offenbar den Blick dafür, hier dem Klassenfeind zu begegnen. Allerdings hatten italienische Faschisten nie das Ausmaß krimineller Brutalität erreicht, das deutsche Nationalsozialisten ein Jahrzehnt später ausüben sollten. Bertolt Brecht empfahl dem Paar, auch seinen Bühnenbildner Caspar Neher im malerischen Positano an der Amalfiküste zu besuchen. Dieser Ort wurde in den dreißiger Jahren zu einer deutschen Schriftsteller- und Künstlerkolonie; deutsche Antifaschisten, die vor Hitlers Schergen flohen, fanden also im Ursprungsland des Faschismus` eine Zuflucht.



TECHTELMECHTEL MIT BENJAMIN


Asja Lacis traf zufällig, als ihr Freund gerade in München beschäftigt war, Walter Benjamin in einem Geschäft auf Capri. Er half ihr, das italienische Wort für Mandeln zu finden und trug ihr die Einkaufspakete ins vom Weinlaub umkränzte Häuschen. Der “solide Intellektuelle” mit Brillengläsern und “ungeschickten Händen” kam gleich am nächsten Tag zu Besuch, als sie gerade im löchrigen grauen Kleid Spaghetti kochte. Benjamin, der verheiratet war und einen Sohn hatte, freundete sich mit Tochter Dagmar an, um die Mutter zu erobern:


Er schloß sofort Freundschaft mit Daga. In der `Einbahnstraße` erzählt er von einem kleinen Mädchen, das sich weigerte, den Gast zu begrüßen, weil es sich noch nicht gewaschen hatte, aber nachdem sie sich gewaschen hatte, kam sie nackt zur Begrüßung ins Zimmer. Das war Daga. Als wir die Spaghetti aßen, sagte er: `Ich beobachte Sie schon zwei Wochen - wie Sie in Ihren weißen Kleidern mit Daga, die so lange Beine hat, über die Piazza nicht gehen, sondern flattern.`”2


Lacis wurde für Benjamin und für andere deutschsprachige Intellektuelle zur wichtigen Informationsquelle über sowjetische Kunst und Kultur. Sie berichtete ihm über ihre Theaterexperimente in Riga und Orel, erzählte ihm von Majakowski, den “neuen Schriftstellern und Dichtern” und von den “neuen sozialistischen Sitten”. Er revanchierte sich mit seinen Kenntnissen über Franz Kafka, Marcel Proust, Charles Baudelaire, Heinrich von Kleist und Jean Paul.  


Damals arbeitete Benjamin an der Schrift “Ursprung des deutschen Trauerspiels”, mit der er sich habilitieren wollte, doch die Universität Frankfurt lehnte sie 1925 ab, was Matthias Heine “eine der größten Blamagen des deutschen Universitätsbetriebs” nennt (welt.de). Die Bildsprache Benjamins irritierte offenbar seine in Begriffen denkenden Prüfer. Benjamin wollte die Unterschiede zwischen Tragödie und Trauerspiel definieren, letzteres betrachtete er als eine Erfindung der Barockdichter, deren allegorischer Ausdruck auch die expressionistischen Dramatiker seiner Zeit beherrschten. Auch Lacis zweifelte an seiner Schrift, die ihr zu weit von klassenkämpferischen Notwendigkeiten entfernt schien. Sie erklärte sich Benjamins entscheidenden beruflichen Misserfolg so:


Obwohl die Schrift richtig akademisch aussieht, mit gelehrten Zitaten, auch in französischer und lateinischer Sprache, gespickt ist und sich auf ein ungeheures Material bezieht, so ist dennoch ganz klar, daß dieses Buch kein Gelehrter geschrieben hat, sondern ein Poet, der in die Sprache verliebt ist und Hyperbeln anwendet, um einen glänzenden Aphorismus zu bilden. Übrigens schrieb mir Walter Benjamin Gedichte. Sie waren in archaischen Versmaßen, inhaltlich reich und meisterhaft in der Form.”3


Auch der Hinweis Benjamins, an einem Essay über den “modernen” Roman Wahlverwandtschaften zu arbeiten, in dem Goethe die wechselseitige erotische Anziehungskraft zwischen zwei befreundeten Paaren als chemische Affinität illustriert, zeitigte bei Lacis keinen erotischen Erfolg. Doch die beiden blieben in inniger Freundschaft verbunden. Der poetisch denkende Literaturwissenschaftler wird ihr 1928 seinen aphoristischen Band “Einbahnstraße” mit dem grammatisch komplexen Untertitel “Diese Strasse heisst Asja-Lacis-Strasse nach der die sie als Ingenieur im Autor durchbrochen hat” widmen. Er wird sie - ungebeten - nach ihrer Rückkehr in Riga besuchen, wo Lacis mit Paegle und Laicens zusammen regierungskritisches Theater veranstaltete. Weil sie in Lettland erneut eine lange Haftstrafe fürchtete, floh die Regisseurin 1926 nach Moskau, wo sie einen “Nervenzusammenbruch” erlitt und in eine Klinik kam; Benjamin besuchte sie auch dort.4



NEAPEL


Ein gemeinsamer Bericht über Neapel ist eine Frucht ihrer engen Beziehung. Er erschien am 19. August 1925 in der Frankfurter Zeitung. Fragmente daraus, an denen Lacis Mitautorin war, sind im Buch abgedruckt. Während ihres Besuchs der italienischen Metropole am Fuße des Vesuvs bemerkten die beiden viel Armut: Familien wohnten auf der Straße; Benjamin erzählte ihr, dass die Mütter ihren hungernden Kindern Wein verabreichten, um sie zu besänftigen. Die beiden entschminkten die Stadt von touristischen Beschreibungen, bemerkten, dass ein Grau das Rot, Ocker und Weiß die Mauern der südlichen Architektur überzieht, ein steinernes Gemisch aus vielstöckigen Mietskasernen, Villen, bewohnten Höhlen in den Uferfelsen, Fischerkneipen und Speicherbauten an den Kais, “anarchisch, verschlungen dörflerisch im Zentrum”, wo die Kirchen nicht prunken, sondern sich derart in den Alltag einfügen, dass sie von Profanbauten kaum zu unterscheiden sind. Zwar erschien ihnen Neapel felsenhaft und mit “Stein verwachsen”, doch zugleich auch porös, wandelbar und provisorisch. So wird Lacis das Häusermeer Neapels zur Allegorie ihres Improvisationstheaters:


In solchen Winkeln erkennt man kaum, wo noch fortgebaut wird und wo der Verfall schon eingetreten ist. Denn fertiggemacht und abgeschlossen wird nichts. Porosität begegnet sich nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvisieren. Dem muß Raum und Gelegenheit auf alle Fälle gewahrt bleiben. Bauten werden als Volksbühne benutzt. Alle teilen sich in eine Unzahl simultan belebter Spielflächen. Balkon, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich. Noch die elendste Existenz ist souverän in dem dumpfen Doppelwissen, in aller Verkommenheit mitzuwirken an einem der nie wiederkehrenden Bilder neapolitanischer Straße, in ihrer Armut Muße zu genießen, dem großen Panaroma zu folgen. Eine hohe Schule der Regie ist, was auf den Treppen sich abspielt. Diese, niemals ganz freigelegt, noch weniger aber in dem dumpfen nordischen Hauskasten geschlossen, schießen stückweise aus den Häusern heraus, machen eine eckige Wendung und verschwinden, um wieder hervorzustürzen. Auch stofflich hat die Straßendekoration mit der theatralischen enge Verwandtschaft. Papier spielt die größte Rolle. Rote, blaue und gelbe Fliegenwedel, Altäre aus farbigem Glanzpapier an den Mauern, papierne Rosetten an den rohen Fleischstücken.”5


Trotz ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Kunst, Kultur und Revolution kennzeichneten Lacis und Benjamin profunde Gegensätze. Die Entschiedenheit der Ingenieurin gesellschaftlicher Verhältnisse traf auf den undogmatischen Geist des poetisch denkenden Intellektuellen, doch davon später mehr. Nächsten Samstag folgt der dritte Teil.

 

UB 

 

Quelle: 

1Als PDF-Datei zu beziehen auf: Lacis_Asja_Revolutionaer_im_Beruf.pdf (monoskop.org). Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

S. 41

2 S. 42

3 S. 45

4 S. 53f




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