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Asja Lacis: “Revolutionär im Beruf”, Teil 1
17.07.2021


Vom Arbeiterkind zur politisch engagierten Regisseurin

Asja Lacis, Foto: Saite

 

2019 erinnerten zwei Ereignisse an eine Lettin, die deutschen Intellektuellen in den zwanziger Jahren als Regisseurin, Schauspielerin und politische Aktivistin bekannt war. Der Bremer Förderverein Belladonna kürte Asja Lacis vor zwei Jahren zur Frau des Monats Juni und stellte auf seiner Webseite ihre Kurzbiographie vor (belladonna-bremen.de). In der Lettischen Nationalbibliothek war einige Wochen vorher eine Ausstellung eröffnet worden, die das (nicht ganz unerotische) Verhältnis der Revolutionärin zum Intellektuellen Walter Benjamin thematisierte. Die Lettin, die Benjamin auf Capri kennengelernt hatte, vermittelte ihm “intensive Einsicht in die Aktualität eines radikalen Kommunismus” (zeit.de). Trotzdem gelang es ihr nicht, ihn zum Eintritt in die KP zu bewegen. Lacis machte Benjamin und andere deutsche Literaten und Theatermacher mit sowjetischen Kunstvorstellungen vertraut, im Gegenzug sorgte sie für die Inszenierung der Werke Bertolt Brechts in der Sowjetunion. Die Literaturwissenschaftlerin Hildegard Brenner, die einst Herausgeberin der linken Literaturzeitschrift “Alternative” war, ehrte Asja Lacis zu ihrem 80. Geburtstag am 19. Oktober 1971 mit der Herausgabe des Sammelbandes “Revolutionär im Beruf”, in dem deutschsprachige Texte und Mitschriften von Tonbandaufzeichnungen der lettischen Autorin zusammengestellt sind.1 Die Schriften ermöglichen Aufschluss über diese kämpferische Lebensgeschichte, die als Kind in ärmlichen Verhältnissen begann. Brenner lobt die Entschiedenheit dieses revolutionären Lebens, das allerdings von der brutalen Praxis sowjetischer Machthaber überschattet wurde, die nicht nur das emanzipatorische Anliegen der Kunstaktivistin und ihrer Gesinnungsgenossen sabotierte, sondern der sie letztlich selbst zum Opfer fielen.



ARBEITERTOCHTER UNTER BÜRGERMÄDCHEN


Asja wurde 1891 auf einem Gut in Ligatne bei Sigulda als Tochter der Liepinas geboren. Lettinnen und Letten waren seit vielen Jahrzehnten keine Leibeigenen mehr, doch die sozialen Unterschiede zum begüterten deutschbaltischen Landadel existierten weiterhin. Ein Baron vermietete seine Immobilien an die örtlichen Arbeiter, auch an Asjas Eltern, die sich mit einem kleinen Zimmer begnügen mussten, in dem ein Webstuhl den größten Platz einnahm. Die Mutter webte Decken und Laken, der Vater arbeitete als Sattler und Schneider. Das Leben der Besitzlosen auf dem Land war kärglich. “Spielsachen hatte ich nicht, nicht einmal eine schäbige Stoffpuppe.” Auch einen Wintermantel und Lederschuhe konnten ihr die Eltern nicht kaufen; Asja erfreute sich an den Eisblumen auf den Fenstern und entwickelte an ihnen ihre Einbildungskraft: “Am häufigsten sah ich das häßliche kleine Entchen, Rotkäppchen und die Prinzessin aus dem `König Drosselbart`”.  


Für ein besseres Leben musste die Familie Liepina nach Riga umziehen. Der Vater fand Arbeit in der Waggonfabrik; er hielt viel von Bildung, war klassenbewusst, nahm an den Protestaktionen von 1905 teil; er schickte seine Tochter auf die Straße, um Flugblätter zu verteilen. Er sorgte auch dafür, dass sie ein privates Mädchengymnasium besuchen konnte, dessen Direktor Atis Kenins sich als Schriftsteller betätigte und Kontakt zu lettischen Dichtern, Malern und Musikern unterhielt. Asja beherrschte die deutsche Sprache derart, dass sie in den Ferien in Warschau als Sprachlehrerin jobbte. Ihr Kontakt zu den Lehrern war gut. Sie schätzten ihr Interesse für Byron, Lermontow, Dostojewski, Przybyszewski, Maeterlinck oder Sologub. Asja identifizierte sich mit den dramatischen Frauengestalten wie Hedda Gabler, Hilde Wangel und Monna Vanna. Zugleich empfand sie die Distanz zu ihren Mitschülerinnen:  


Das Gymnasium besuchten Töchter von Fabrikanten, hohen Beamten und `grauen Baronen` (so nannte man die Großbauern). Ich war das einzige Arbeiterkind. Ihre Schulkleider waren aus teuren Stoffen, mein Kleidchen war aus dem billigsten Stoff. Sie lachten mich aus und beleidigten mich, aber die Lehrer unterstützten mich, weil sie meine Liebe zur Literatur und Kunst sahen.” Eine besondere Abneigung entwickelte sie gegen eine bestimmte Schicht: “Ich haßte die Kleinbürgerlichkeit, die das Leben verzäunte, mit ihren bornierten Regeln und Konventionen.”2



LEHRJAHRE IN SANKT PETERSBURG


1912 begann sie ein allgemeinbildendes Grundstudium am Psychoneurologischen Institut in Sankt Petersburg, der ersten Hochschule, die in Russland Frauen aufnahm. Ihr Professor war der Psychiater und Neurologe Wladimir Bechterew, der bei einem Aufenthalt in Leipzig von Wilhelm Wundt gelernt hatte, experimentalpsychologische Labore einzurichten. In der Erinnerung seiner Studentin Asja versammelte Bechterew die fortschrittlichsten Gelehrten und Studierenden um sich, unter ihnen auch Marxisten. Es entwickelten sich muntere Diskussionsrunden zwischen lettischen Sozialdemokraten, Anarchisten und Nationalisten. Asja freundete sich mit Larissa Reissner an, die später als Autorin des Buchs “Hamburg auf den Barrikaden” bekannt wurde. In den Kursen ging es um Schopenhauer, Wagner, Nietzsche. Sie erfasste eine gewisse Begeisterung für den Philosophen des Übermenschen, der kein “christliches Pseudomitleid” gekannt habe und sympathisierte mit dessen dionysischer Kunstform.3 Sie lernte den Mitstudenten Julijs Lacis kennen und heiratete ihn.


Das liberale Institut stand auch dem Enfant terrible des russischen Theaters, Wsewolod Meyerhold, offen, dem Regisseur, der mit experimentellen Aufführungen das Publikum aufbrachte. Er inszenierte Stücke derart, dass sie den betagten Realismus der russischen Bühnen überwinden sollten, wider den “Akademismus” und den “Geist des Würdenträgertums”. Er interessierte sich für die Commedia dell`arte und gab als “Doktor Dappertutto” das Märchenstück “Die Liebe zu den drei Orangen” des Venezianers Carlo Gozzi heraus. Asja Lacis bezeichnet ihn als den “großen Reformator”, der zu öffentlichen Diskussionen anregte und forderte, die Klassiker neu zu interpretieren.


Im dionysischen Geist vereint war die Studentin mit dem futuristischen Dichter Wladimir Majakowski. Seine Aufführungen nahmen die Skandal-Darbietungen deutscher Fluxus-Künstler der frühen sechziger Jahre vorweg:  


Ich erinnere mich an folgende Szene: Auf einem Felsen im Nördlichen Polarmeer sitzt Majakowski, auf dem Kopf einen Lorbeerkranz. Er trägt die gelbe Jacke. Es treten zwei geschminkte Frauen auf. Sie tragen in jeder Hand eine Kanonenkugel, die Tränen bedeuten, die auf den Poeten fallen. Er nimmt die Kugeln, wickelt sie sorgfältig in Zeitungspapier und verpackt sie in seinem Koffer. Dann steht er auf, setzt den Hut auf und sagt ins Publikum:

Gut denn!

den Weg gebt frei!

Ich wähnte -

daß hier alles mir eitel Freude sei;

mit Glanz im Auge

würd ich den Thron besteigen,

ein Grieche, verzärtelten Körpers...

Das Publikum pfiff und brüllte wie toll: `Majakowski ist ein Idiot und ein Verrückter, haltet diesen Schwindler fest! Gebt unser Geld zurück!` Von der Bühne kam in ausgezeichneter Diktion die Antwort: `Selbst seid ihr Deppen!` Für mich war die Verhöhnung der spießigen Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit wie ein Schluck erfrischenden Narsans. Später begriff ich, daß, wer auf allgemein festgelegte Meinungen spuckt, höchste Tapferkeit zeigt.”4



THEATER ALS POLITISCHER AKTIVISMUS


Hildegard Brenner wählt Texte aus, die Asja Lacis als politische Aktivistin in einer wechselvollen Zeit zeigen, die sie mitgestalten wollte. Das Private, die Geburt der Tochter Dagmar, die Scheidung vom Ehemann Julijs, die Affäre mit dem lettischen Schriftsteller und Aktivisten Linards Laicens und die spätere Ehe mit dem Regisseur Bernhard Reich werden kaum erwähnt. Thema sind die Kontakte zu Theatermachern, die ihre Kunst als politischen Auftrag verstehen, die ausgebeutete Klasse zu emanzipieren und sich damit Verbote und Gefängnis des bürgerlichen Staats einhandeln, aber gleichzeitig übersehen bzw. nicht sehen wollen, wie sich im ersehnten Arbeiterstaat Sowjetunion der Spruch von Georg Büchners Danton bewahrheitet: „Ich weiß wohl, - die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“  


Als 1914 der Krieg ausbrach, begann sie mit dem Studium der Theaterwissenschaften, unterrichtete in Moskau lettische Landsleute, die vor den Deutschen geflohen war. Am Kriegsende herrschte im neuen sowjetischen Staat unter fortschrittlichen Intellektuellen Aufbruchstimmung: “Die Revolution änderte die Beziehungen zwischen den Menschen, die Auffassung von der Arbeit, es eröffneten sich ganz neue Perspektiven,”5 schreibt Lacis. Sie folgte ihrem Vorbild Doktor Dappertutto und engagierte sich für die sowjetische Sache.  


Sie fand in der russischen Stadt Orel eine Anstellung als Theaterregisseurin und entdeckte auf ihren Rundgängen ein neues Publikum, neue Akteure: Auf den vom Krieg gezeichneten Straßen, Plätzen, Friedhöfen und zerstörten Häusern sah sie Scharen verwahrloster Kinder in zerlumpter Kleidung und mit ungewaschenen Gesichtern, die als Räuberbanden marodierten und in den Heimen beobachtete sie die Kriegswaisen, die zwar gewaschen und gekleidet waren, aber müde und traurig wie Greise dreinblickten. Die Regisseurin wollte ihnen mit ihren Mitteln helfen und sie entwickelte ein spezielles Kindertheater, das kindliche Improvisationskunst einbezog. Sie stellte ihre eigene “aristokratische” Wohnung zur Verfügung, um mit Kindern zu proben und sie im Theaterspiel zu begleiten, ohne das Ergebnis vorherzubestimmen. Später schrieb Walter Benjamin eine antibürgerliche Dramaturgie zu ihrem Kindertheater, so dass Lacis in Deutschland bekannt wurde. Obwohl Benjamins Text für seine Verhältnisse ungewöhnlich dogmatisch und klapprig formuliert ist, soll er noch Einfluss auf die Zeit der Westberliner Kinderläden der 68er-Bewegung gehabt haben.


Als “persönliche Umstände” Asja Lacis 1920 ins damals unabhängige Heimatland zurückführten (offenbar war ihre Beziehung zu Linards Laicens der Grund), arbeitete sie in der Theaterabteilung der von Sozialdemokraten organisierten Rigaer Volkshochschule für die arbeitende Bevölkerung. Diese Zeit betrachtete Lacis als ihre “entscheidende Etappe”. Im Anbetracht des Roten Terrors, den das Stucka-Regime in Lettland gerade verübt hatte, verbot der lettische Gesetzgeber die Kommunistische Partei und Sympathisanten mit der Sowjetunion mussten sich vorsehen. Lacis nahm an den illegalen Aktivitäten der lettischen KP teil. Sie bezeichnete die Verhältnisse als “ungeheuer schwierig”. Polizisten störten und verboten Aufführungen und unternahmen Hausdurchsuchungen. Dennoch organisierte sie mit den Genossinnen und Genossen ein revolutionäres Programm, sie lasen die Werke ihrer lettischen Landsleute Rainis, Laicens, Paegle, die Schriften sowjetrussischer Dichter, unter ihnen Majakowski, oder die expressionistischen Gedichte Johannes R. Bechers, des späteren Autors der DDR-Hymne, zudem machte die experimentelle Dramaturgin Improvisation zum Lehrfach.


Mit der Revue “Die Gesichter der Jahrhunderte” von Leon Paegle, die den Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten von der Antike über den Bauernkriegen, der Revolution von 1905 bis zu aktuellen Auseinandersetzungen darstellte, versuchten die Theaterleute, die Rigaer Massen zu erreichen. Die Polizei erlaubte die Aufführung als “historisches Stück”, verbot aber das Anstimmen der “Internationale”. Statt sie zum Finale zu singen, zogen die Schauspieler und alle Mitwirkenden durch die Stadt.  


Auf einigen Wagen saßen Schauspieler mit ihren Requisiten, die meisten gingen zu Fuß. Sie sangen, riefen Losungen, sprachen ihren Part aus dem Stück. So zogen wir in Kostümen und Masken – als Ägypter, Griechen, als Priester, Bauern und Soldaten – zum `Sonnenpark`. Das war eine unerhörte Sache für Riga. Die Leute sammelten sich auf den Straßen, an den Fenstern, sogar auf den Dächern. Sie ergriffen Partei. Einige schrien, es lebe die Freiheit, öffnet die Gefängnisse, Freiheit für die Arbeiterkultur, und warfen uns rote Blumen, rote Stoffetzen, um kleine Steine gewickelt, zu. Von der anderen Seite bewarf man uns mit Kartoffeln, Eiern, Unrat und schrie nach der Polizei. Die Polizei griff nicht ein, da sie einen Aufstand der linken Gewerkschaften vermutete und wohl fürchtete, wir seien bewaffnet. Im Park erwarteten uns an die 5000 Zuschauer, meistens Arbeiter. Sie gingen nicht weg nach der Vorstellung. Sie sangen die Internationale und ein Lied für die Gefallenen (die Erschossenen), das die Polizei besonders haßte.”6

 

UB 

 

Quelle: 

1 Als PDF-Datei zu beziehen auf: Lacis_Asja_Revolutionaer_im_Beruf.pdf (monoskop.org). Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

2 S. 10

3 S. 11f.

4 S. 15f.

5 S. 20




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