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Ausstellung „ES_TEXT“ im Lettischen Nationalen Kunstmuseum
29.01.2022


Wirklichkeit ist nur ein Wort

Maris Bisofs, Fabrika und Fabriks, Foto: LNMM

Für den modernen Menschen sind sie ein gewichtiger Teil des täglichen Lebens. Texte begegnen ihn auf den Plakaten, Schildern, als Graffiti auf der Straße, mündlich und schriftlich in den Medien, sind das Austauschmittel per Smartphone oder unmittelbar im persönlichen Gespräch. Ein menschliches Leben ohne Text ist unvorstellbar. Die Ausstellung „ES_TEXT“ widmet sich diesem Phänomen. Diese Vorschau basiert auf Informationen einer Pressemitteilung der Kuratoren Elita Ansone und Leonards Laganovskis.


In den 60er Jahren wurde der Text zum Thema der bildenden Kunst. In der Spätmoderne stellt sich für Philosophen, Sprachwissenschaftler und Künstler die Frage, wie Sprache und Text, die als selbstverständliches Mittel anerkannt sind, Realität zu bezeichnen, überhaupt funktionieren und wie sich das Verhältnis dieser Zeichensymbole zur Wirklichkeit eigentlich gestaltet. Das führte bis zum postmodernen Zweifel, ob Sprache überhaupt etwas über die Wirklichkeit aussagt. Wenn Sprache wohl für die meisten Theoretiker immer noch in einem Zusammenhang mit der Wirklichkeit steht, so ist dieser doch recht kompliziert geworden. Es verdeutlicht einen Unterschied im Verhältnis zur Wirklichkeit, ob jemand die USA „Supermacht“ oder „Imperium“ nennt, ein parlamentarisches System als „Demokratie“ oder „Corona-Diktatur“ bezeichnet, von der „Annexion“ oder „Sezession“ der Krim spricht, einen Gewalttäter als „Terrorist“ oder „Freiheitskämpfer“ kategorisiert. 


Das sind nicht nur unterschiedliche Bezeichnungen, sondern kündet auch von unterschiedlichen Vorstellungen über die Realität, die so gegensätzlich werden können, dass eine Verständigung nicht mehr möglich ist. Sprache ist nie rein objektiv, sondern liefert die Perspektive des äußernden Subjekts gleich mit. Worte, Texte können eine Gesellschaft einigen oder spalten. Welche Texte, Narrative sich im Diskurs durchsetzen, ist nach Erkenntnissen des Philosophen Michel Foucault eine Machtfrage, das lässt sich am Erfolg rechtspopulistischer und rechtsradikaler Bewegungen der letzten Jahre erkennen.. 


Mit dem Motto „Das wird man ja noch sagen dürfen!“ nehmen Rechtspopulisten die Diskursgrenzen ins Visier; sie rühren an Tabus, verharmlosen u.a. die NS-Geschichte zum „Vogelschiss“; andererseits propagieren sie selber Sprachverbote, wenn beispielsweise das linksliberale Bemühen um gendergerechtes Formulieren als „Political Correctness“ diffamiert wird. Hier kennzeichnet der unterschiedliche Sprachgebrauch die Grenzen der Gemeinsamkeit und die Spaltung innerhalb der Gesellschaft.


Konzeptkünstler wandten sich in den 60er Jahren von Gemälden und Skulpturen ab, die beanspruchten, Realität nachzuahmen. Stattdessen thematisierten sie die symbolischen Mittel, mit denen der Mensch Wirklichkeit zu erfassen bestrebt ist, dazu gehören Sprache und Text. Das wirkte auf die Betrachter häufig irritierend und unverständlich, denn wichtiger als das handwerkliche Geschick, das Kunstwerk zu gestalten, wurde die Idee, die dahinter steckt. Zudem wussten Konzeptkünstler dadaistisch zu provozieren, beispielsweise Fluxuskünstler am 20. Juli 1964. 


Damals lud der Lette Valdis Abolins, Kulturreferent des AStA der TH Aachen, solche zu einem Festival der Neuen Kunst in den Hörsaal, unter ihnen Joseph Beuys, Wolf Vostell und Bazon Brock. Die Deutschen hatten die Bedeutung des 20. Julis verdrängt und reagierten amüsiert, irritiert, aber auch schwer empört, als sie mit Texten wie „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ an das jüngst Verbrochene erinnert wurden. Die Veranstaltung endete in einer Schlägerei (youtube.de).


Zum gewichtigen Bestandteil dieser bewusst unschönen Kunst, die selten ins Wohnzimmer passt, wurde der linguistische Konzeptualismus, also die Auseinandersetzung mit Sprache und Texten. Die Ausstellungsmacher nutzen den Titel als bedeutungsvolles Artefakt: „ES_TEXT“ hat einen mehrdeutigen Bezug zur Realität: Einerseits steht „ES“ für das lettische Pronomen „Ich“, doch auf reinem Lettisch müsste der Titel „ES_TEKSTS“ heißen. Ansone und Laganovskis schlagen vor, ihren Titel auch Lateinisch zu lesen, dann bedeutet er nämlich „Du bist der Text“: „Der Titel der Ausstellung macht begreiflich, dass sich die Grenzen zwischen Sprachen, Textformen und Funktionen einreißen lassen, was endlose Möglichkeiten des Zusammenspiels von Zeichen, Bedeutungen, Formen und Funktionen schafft. In der Ausstellung wurde ein intertextueller Zugang benutzt, der die Kunstwerke miteinander `kommunizieren` lässt,“ schreiben Ansone und Laganovskis.


Die Kuratoren präsentieren lettische Beispiele dieser Kunstform. Zu sehen sind etwa 200 Werke von 70 KünstlerInnen, darunter Gemälde, Installationen, Skulpturen, Graphiken, Videos, Bücher. Ein Schwerpunkt der lettischen Textkunst ist der poetische Konzeptualismus, den kennzeichnet, aus Texten und Bildern eine ästhetische Einheit zu formen. Doch lettische Konzeptkünstler gestalteten auch Werke, die im engen Zusammenhang mit politischen und sozialen Prozessen stehen. Sie sind ein wesentlicher Teil der Ausstellung. Sie sind kritisch und bestrebt, den Betrachter „aus der Komfortzone zu schleudern“, wie die Kuratoren anmerken. Das älteste gezeigte Bild ist übrigens ein Gemälde von Janis Pauluks aus dem Jahr 1945: „Felicita mit Zeitung“.


ES_TEXT“ ist vom 4. Februar bis 1. Mai 2022 im Hauptgebäude des Lettischen Nationalen Kunstmuseums im Großen Saal, 2. Etage (Jana Rozentala laukums 1, Riga) zu sehen.

UB 




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