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Lettischunterricht zwischen Purismus und Weltoffenheit
20.05.2021


Eine politisierte Debatte um eine sprachpädagogische Reform

Ein Adressbuch von 1905 in russischer, deutscher, lettischer und estnischer Sprache, Foto:Saite

 

“Sag mir, welchen Sprachunterricht du bevorzugst und ich sage dir, welche politische Gesinnung du hast.” Das lässt sich aus einem Aufsatz Heiko F. Martens und Sanita Lazdinas folgern, der Mehrsprachigkeitsdiskurse in der lettischen Bildung zum Thema hat. Seit einigen Jahren entwickelt das lettische Bildungszentrum mit finanzieller Unterstützung des Europäischen Sozialfonds (ESF) ein neues Konzept für den Lettischunterricht. Das Autoren-Duo hat dabei einen Gegensatz zwischen wissenschaftlichen Auffassungen und gesellschaftlichen Debatten festgestellt. Während Sprachwissenschaftler und Pädagoginnen neue Unterrichtsformen begrüßen, bei denen die Lernenden ihre Erfahrungen aus einem mehrsprachigen Milieu einbringen - was in Lettland vielerorts zur Lebenswirklichkeit gehört - fürchten patriotisch Gesinnte um die Reinheit der Nationalsprache.  


In Lettland sprechen etwa Zweidrittel der Bevölkerung Lettisch und ein Drittel Russisch als Muttersprache. Hinzu kommen Minderheitensprachen wie Lettgallisch und Livisch, Polnisch und Litauisch, als wichtigste Fremdsprachen vor allem Englisch, immer noch Russisch und im minderen Maß Deutsch. Tatsächlich ist die mittlere Baltenrepublik seit jeher ein vielsprachiges Land mit entsprechend sprachkundigen Einwohnerinnen und Einwohnern samt ihrer wechselvollen Vergangenheit. In der demokratischen Phase der zwanziger Jahre war die Sprachpolitik derart liberal, dass Saeima-Abgeordnete ihre Reden auf Lettisch, Deutsch oder Russisch halten durften. In der Zeit der nationalistischen Ulmanis-Diktatur verloren ethnische Minderheiten ihre Rechte; sie sollten sich assimilieren oder emigrieren. Die gegenteilige Sprachpolitik betrieben die sowjetischen Besatzer, die Russisch als unumgängliche Verkehrssprache einführten und das Lettische marginalisierten. Vor diesem Hintergrund ist der lettische Sprachnationalismus seit den neunziger Jahren zu betrachten, der die Verhältnisse abermals umkehrte, nun das Russische weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannte und “eine Ideologie der Einsprachigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung verankert hat”.


Die Rückeroberung des lettischen Sprachraums ist allerdings mit gewissen Haltungen und Vorstellungen verbunden, die modernen sprachdidaktischen Konzepten zuwiderlaufen. Für patriotisch Gesinnte besteht zwischen eigener Identität, Nation und idealisierter Standardsprache ein enger Zusammenhang. Aufgrund historischer Erfahrungen sind sie der Ansicht, dass die Nationalsprache geschützt werden müsse. Sie fürchten deren Verderbnis durch Vermischung mit anderen Sprachen oder Sprachformen wie Dialekte oder Slang. Daher lehnen sie es ab, sprachliche Alltagsphänomene wie der Sprachwechsel mitten im Gespräch oder Dialoge in einem mehrsprachigen Gemisch als Thema des Lettischunterrichts zu behandeln.  


Marten und Lazdina zitieren als Beispiel für sprachpädagogische Reformbemühungen aus einem Entwurf des lettischen Bildungszentrums aus dem Jahr 2017. In der achten Klasse sollen sich Lernende im Lettischunterricht mit Soziolekt (schichtspezifisches Sprechen) und Slangwörtern beschäftigen, wie sie in den sogenannten sozialen Medien benutzt werden, solche Formulierungen durch Standardsprache austauschen, dann bewerten, ob der umformulierte Text an Qualität gewinnt oder verliert. Zudem wird den Schülerinnen und Schülern die Aufgabe gestellt, sich Youtube-Videos auf Englisch und Russisch anzuschauen, um herauszufinden, weshalb Menschen Tagebuch schreiben. Ihre Ergebnisse sollen sie auf Lettisch diskutieren. Das Ziel ist die Förderung von “transversalen Fähigkeiten”, also fachübergreifende Kompetenzen, die mehr zur Bildung als zur beruflichen Ausbildung gehören, so wie es von der UNESCO angestrebt wird: “kritisches und innovatives Denken, Kommunikationsfähigkeiten, Offenheit, Toleranz und interkulturelles Verständnis wie auch Medien- und Informationskompetenz”. Das Autoren-Duo deutet an, dass es vielen lettischen Schülerinnen und Schülern an solchen Fähigkeiten noch mangelt. Die Stichworte deuten an, dass diese didaktischen Ziele den Vorstellungen einer liberalen und weltoffenen Gesellschaft entsprechen, also Ziele, die von nationalistisch orientierten und “antiglobalistischen” Parteigängern häufig scharf kritisiert werden. So gerät ein sprachpädagogischer Ansatz ins politische Kreuzfeuer.


Anschließend nennen Marten und Lazdina Beispiele, wie in lettischen Medien gegen diese Reform polemisiert und wie “im Interesse der `Rettung der lettischen Sprache` mit Mythen und Halbwahrheiten operiert” wird. Sie zitieren aus einem Interview, das die Journalistin Elita Veidmane am 8. Mai 2018 mit der Soziolinguistin Vineta Porina führte, die auch als Saeima-Abgeordnete der “Nationalen Allianz” tätig war (nra.lv). Marten und Lazdina verdeutlichen, wie sich Veidmane und Porina die Bälle zuspielen, in der Auffassung geeint, dass die Sprache vorrangiges Merkmal nationaler Identität darstellt, “die durch die Einbeziehung modernerer Ansätze bedroht werde”. Laut Porina ist es ein politisches Zeichen, wenn man Lettisch wie alle anderen Sprachen behandele. Veidmane behauptet in einer Frage, dass “der so genannte neue Lerninhalt” die lettische Sprache “nicht in einem eigenen Modul” einführe, sondern “in einen Korb mit allen Sprachen der europäischen Union” lege, “also ohne dass sie als die Hauptsprache der Letten ausgezeichnet” sei. So entsteht der falsche Eindruck, als ob die Entwickler des Bildungszentrums für den Lettischunterricht keinen speziellen Lehrplan mehr vorsehen, als ob Lettisch zukünftig wie eine Fremdsprache gelehrt werden soll, um das Lernniveau für “Migranten” zu verflachen. Porina sekundiert und weist auf eine spezielle Situation des Lettischen hin: “Die Bedingungen Lettlands werden gar nicht berücksichtigt: Die lettische Sprache ist nicht in der Situation wie, zum Beispiel, die englische Sprache, die eine der großen Sprachen ist und die auch neben einer Vielzahl von Minderheitensprachen existieren wird. Die lettische Sprache kann sich nur in Lettland entwickeln.”  


Für Marten und Lazdina werden auf diese Weise die Reformansätze in der Öffentlichkeit verfälschend dargestellt, als ob die Übernahme moderner sprachdidaktischer Methoden aus dem internationalen wissenschaftlichen Diskurs das spezifisch Lettische bedrohe. Die beiden Sprachwissenschaftler zitieren noch weiter. Journalistin Veidmane setzt die Ziele des neuen Lernstandards mit dem Vorhaben der “Feinde Lettlands” gleich, die 2012 vergeblich ein Sprachreferendum organisierten, um Russisch als zweite Staatssprache zuzulassen. Porina nimmt auch diesen Ball auf: “So ist es. Momentan wird das dank europäischer Mittel erreicht – mit 18 Millionen Euro. Dieses Geld wird zur Imitation ausländischer Programme eingesetzt.” Hier verbindet sich die Weigerung, neue sprachdidaktische Methoden anzuerkennen mit populistischer Globalismus-Skepsis und wohlfeiler EU-Kritik.  


Ein solches Beharren auf Althergebrachtes und Abwehr der vermeintlich identitätsbedrohenden Gefahren aus dem Ausland verbaut Chancen, neue pädagogische Wege zur Überwindung der lettisch-russischen Parallelgesellschaften anzugehen. Marten und Lazdina resumieren: “Diese Beispiele veranschaulichen, wie verbreitet ein traditionelles Bild der Trennung von Sprachen, der Fokussierung auf Strukturen und eine Distanz zur mehrsprachigen Realität auch auf prominenter bildungspolitischer Seite ist. Gleichzeitig ist die Verbindung von Sprach-, National- und Identitätsdiskursen deutlich, bis hin zu offen xenophoben Meinungsäußerungen.” Solche nationalistischen Abwehrhaltungen breiten sich allerdings in ganz Europa aus und blockieren Möglichkeiten, für bestehende Probleme neue Lösungen zu finden.


Der Aufsatz “Mehrsprachigkeitsdiskurse im Bildungskontext in Lettland zwischen Populismus und Weltoffenheit” von Heiko F. Marten und Sanita Lazdina wurde auf dem Dokumentenserver “academia.edu” veröffentlicht.

UB 




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