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Lettland: Nationalkonservativer Koalitionspartner kritisiert Karins` Unterschrift gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten
30.06.2021


“Eigenmächtig und verantwortungslos”

Euro-Pride-Demonstration in Riga 2015, Foto: GreenZeb, Paða darbs CC BY-SA 4.0, Saite

 

Ob das Münchener Stadion anlässlich des EM-Spiels Deutschland gegen Ungarn in Regenbogenfarben, dem Zeichen der LGBT-Bewegung, erstrahlen durfte, beschäftigte bis vor einigen Tagen viele Nachrichtenmagazine. Die UEFA untersagte das bekanntlich. Mit gegensätzlicher Botschaft ließ Egils Helmanis, nationalkonservativer Bürgermeister des Rigaer Vororts Ogre, am Abend des 28. Junis eine örtliche Brücke erleuchten: nämlich in Ungarns Nationalfarben Rot-Weiß-Grün. Auf Facebook schrieb er dazu, dass einige Amtsträger bestrebt seien, staatliche Positionen zu formulieren. “Allerdings sind die ersten im Staat das Volk, die Bürger. Und dies ist ein Fall, in dem ich zu behaupten wage, dass die Mehrheitsmeinung des Volkes vollständig gegen das von den führenden Amtspersonen Bekundete steht,” meinte Helmanis. Er forderte dazu auf, eine andersartige sexuelle Orientierung von jenen “ideologisch-politischen Bewegungen” zu trennen, die solche Fragen benutzten, um an die Macht zu kommen, um “die Gesellschaft zu transformieren” (delfi.lv). Mit seiner Solidaritätsaktion mit dem ungarischen Gesetzgeber steht Helmanis in Lettland nicht allein da. Seine Partei, die mitregierende Nationale Allianz, kritisiert, dass Ministerpräsident Krisjanis Karins gemeinsam mit 16 anderen EU-Regierungschefs vor ihrem Ratsgipfel in Lissabon einen offenen Brief unterschrieben hatte, um sich mit der LGBT-Bewegung zu solidarisieren.  


Vor dem hitzig verlaufenden Gipfel der EU-Regierungschefs in Lissabon hatten sich die 17 Politiker dazu entschlossen, anlässlich des Pride Days der LGBT-Bewegung an den Artikel 2 des EU-Vertrags zu erinnern, der u.a. die “Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören” vorsieht. Der Pride Day vom 28. Juni erinnere daran, dass “wir diverse und tolerante Gesellschaften sind, sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität inbegriffen”. Die Politiker bekennen sich zum Kampf gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten und sind entschlossen, deren Grundrechte zu verteidigen, damit zukünftige Generationen Europas in einer “Atmosphäre von Gleichheit und Respekt” aufwachsen (tageblatt.lu).


Der offene Brief an EU-Gremien, der Orbans Regierung nicht erwähnt, wird allgemein als Reaktion auf ein neues ungarisches Gesetz gedeutet, das u.a. untersagt, Kinder und Jugendliche über Homosexualität zu informieren. Dieses Gesetz führte in Lissabon zu heftigen Wortgefechten. Laut Medienberichten schlug der niederländische Regierungschef Mark Rutte Orban vor, aus der EU auszutreten. Folgt man der Berichterstattung, fand Viktor Orban nur Unterstützung beim polnischen Kollegen und PiS-Politiker Mateusz Morawiecki (dw.com).


Doch der Brief, der eigentlich nur Selbstverständlichkeiten bekundet, lässt bezweifeln, ob Ungarn in der EU tatsächlich so isoliert dasteht. Denn der weitaus größte Teil der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner vertreten die westlichen Mitgliedstaaten der EU, unter ihnen Angela Merkel, Mario Draghi, Emmanuel Macron und zuletzt auch Sebastian Kurz. Von den 13 östlichen EU-Mitgliedern, die seit 2004 dem Staatenbündnis beitraten, unterzeichneten neben Karins nur seine estnische Amtskollegin Kaja Kallas, der zypriotische Präsident Nikos Anastasiadis und Maltas Premierminister Robert Abela.  


Karins` Unterschrift verursacht einen neuen Streit innerhalb seiner fragilen Vier-Fraktionen-Regierung, denn sie verärgert den Koalitionspartner Nationale Allianz (NA). Die Nationalkonservativen forderten Karins auf, zu ihrer Gemeinschaftssitzung von Vorstand und Fraktion am 28. Juni zu erscheinen, um zu seiner Unterschrift Stellung zu beziehen. Die Nationalkonservativen, deren Haltung in mancher Hinsicht der deutschen AfD entspricht, warfen dem Ministerpräsidenten vor, unabgesprochene Positionen “eigenmächtig und verantwortungslos” zu vertreten. Das sei für die NA unannehmbar, sie trage die Kritik an Ungarn nicht mit, das lediglich ein Gesetzespaket beschlossen habe, um Kinder zu schützen. Die Nationalkonservativen weisen darauf hin, dass zu dieser Gesetzesinitiative auch die Strafverschärfung bei sexuellem Kindesmissbrauch gehöre. Zudem gestatte das ungarische Gesetz den Eltern, selbst zu entscheiden, welche Art von Sexualerziehung ihre Kinder erhalten, es verbiete aber, unter Minderjährigen “Homosexualität, vom biologischen Geschlecht abweichende Geschlechtsidentität und Geschlechtsumwandlung zu popularisieren” (nacionalaapvieniba.lv).


Raivis Dzintars, NA-Mitvorsitzender und Gründer ihres radikalsten Teils, der Partei Visu Latvijai (Alles für Lettland), sieht in der EU-Kritik an Orban eine Einmischung in innere Angelegenheiten: “Wir haben nicht das Recht, uns in die Arbeit des ungarischen Gesetzgebers einzumischen und zu bestimmen, was ein anderer, demokratisch gewählter Staat der EU zu tun hat. Lettlands höchste Amtsträger dürfen nicht auf internationaler Ebene eigenmächtig politisch motivierte Botschaften bekunden, die sich im Widerspruch mit der Auffassung eines großen Teils der lettischen Gesellschaft befinden. Doch gerade das ist geschehen, das erweckt zudem Sorge darüber, ob die außenpolitischen Interessen Lettlands beachtet werden. Die Nationale Allianz verurteilt dieses verantwortungslose Handeln und distanziert sich vollständig von der im Namen Lettlands bekundeten Haltung.”  


Janis Bordans, Justizminister und Vorsitzende der stärksten Regierungsfraktion, der Jauna Konservativa Partija, einer gemäßigten NA-Abspaltung, zeigt Genugtuung darüber, dass Karins versprochen habe, sich zukünftig auf das “Verhandeln solcher Dokumente und Fragen zu konzentrieren, die die Gesellschaft vereinen, statt zu spalten”. Außerdem habe Karins` Unterschrift keine juristischen Folgen (delfi.lv). Beistand erhielt Karins nur aus der eigenen Partei, der auch Außenminister Edgars Rinkevics angehört, der sich schon vor Jahren als erster führender Politiker Lettlands zu seiner Homosexualität bekannt hatte, und vom liberalen Koalitionspartner Attistibai/Par (AP). Daniels Pavluts, AP-Politiker und Gesundheitsminister, zeigte sich mit Karins solidarisch, der unterzeichnete Brief entspreche sowohl den europäischen als auch den lettischen Grundwerten, da stellten sich für die AP keine weiteren Fragen an den Ministerpräsidenten.


Im Gegensatz zu seinen nationalkonservativen Regierungspartnern erweckt Karins den Eindruck, als ob er die Unterschrift in dieser Angelegenheit jederzeit wiederholen würde. Nach der Zusammenkunft mit der NA verlautbarte er am Montag der Presse: “Ich habe öffentlich unterschrieben und - das würde ich zu jeder Tages- und Nachtzeit tun - die Grundwerte der EU vertreten, zu denen Toleranz und Abwehr von Diskriminierung zählen. Als wir in die EU eintraten, haben wir uns als ein Land bekundet, in welchem wir wegen des Geschlechts, der Volkszugehörigkeit, religiöser Konfession oder sexueller Orientierung keinen Einwohner diskriminieren können und dürfen. Das sind die Grundwerte der EU und ich als Regierungschef habe beschlossen, sie zu verteidigen und werde es fortsetzen, sie zu jeder Tages- und Nachtzeit zu verteidigen.”


In seiner eigenen Regierung scheint Karins damit eine Minderheitenposition zu vertreten. Im Parlament hat Jauna Vienotiba, die Partei des Ministerpräsidenten, acht Sitze. Das liberale Parteienbündnis AP, das Karins in dieser Frage unterstützt, stellt 13 Abgeordnete. Ebenso viele Parlamentarier hat die Orban-freundliche Nationale Allianz. Und die Jauna Konservativa Partija, die Karins etwas verhaltener kritisiert, verfügt als größte Regierungsfraktion über 16 Abgeordnete. Zudem ist die Regierung auf Stimmen ehemaliger Abgeordneter der rechtspopulistischen Kam pieder Valsts (KPV) angewiesen, die vermutlich ebenfalls eher Budapest als Brüssel Solidarität erweisen. Politisch bedeutet der Kampf um LGBT-Rechte einen grundsätzlichen Konflikt, der zwei gegensätzliche Auffassungen von Demokratie verdeutlicht: Darf eine mutmaßliche Mehrheit einer Minderheit Rechte vorenthalten oder gehören zum demokratischen Verfassungsstaat unverhandelbare Minderheitenrechte - unabhängig davon, ob eine Mehrheit sie billigt.  

UB 




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