Lettisches Centrum Münster e.V.

127285

Lettland verbietet dem russischen Oppositionssender TV Doschd die Ausstrahlung
08.12.2022


International kein Verständnis für den NEPLP-Beschluss

TV Rain-Logo, Gemeinfrei Link

Der russische Sender TV Doschd (übersetzt "TV Regen") hat im August 2022 seine Zentrale nach Riga verlegt. In der Heimat gelten seine Mitarbeiter als "ausländische Agenten" und müssen dort die Verhaftung fürchten, weil sie kritisch über den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine berichten. Der Lettische Nationale Rat für elektronische Medien (NEPLP), wie sich die staatliche Medienaufsicht nennt, hat nun Doschd wegen beobachteter Verstöße die Lizenz entzogen. Der Sender darf seit dem 8. Dezember 2022 sein Programm in Lettland nicht mehr ausstrahlen und in den digitalen Netzwerken forderten Kommentatoren die Ausweisung der Journalisten. Russische Oppositionelle und die NGO Reporter ohne Grenzen kritisieren das lettische Vorgehen scharf.


NEPLP begründet seine Entscheidung mit Gesetzesverstößen, die TV Doschd begangen habe (lsm.lv). Auf einer Landkarte sei die Halbinsel Krim als russisches Territorium dargestellt, die russische Armee als "unsere Armee" und das Programm nicht wie vereinbart mit lettischen Untertiteln ausgestrahlt worden. Hinzu kommt ein Satz des Doschd-Moderators Alexej Korostoljows, der in der Sendung "Hier und Jetzt" in Bezug zur russischen Armee gesagt hatte: "Wir hoffen, dass wir imstande sind, vielen Soldaten mit Ausstattung und einfachen, elementaren Bequemlichkeiten helfen zu können." Der NEPLP-Vorsitzende Ivars Abolins wies auf einen Brief, den er vom lettischen Geheimdienst VDD erhalten habe. Dessen Inhalt könne er nicht mitteilen, aber aus ihm gehe klar hervor, dass Doschd eine Bedrohung für die nationale Sicherheit Lettlands und die öffentliche Ordnung darstelle. Mit dem Entzug der lettischen Lizenz verliert TV Doschd das Recht, auf dem Territorium der EU seine Programme zu verbreiten. Abolins meint, dass Russen die Sendungen weiterhin auf Youtube sehen könnten, fordert aber von der Videoplattform, es für das lettische Netz zu blockieren. Der VDD hält es nach eigener Darstellung für nicht hinnehmbar, wenn dazu aufgefordert werde, die militärischen Besatzer zu unterstützen. Die zielgerichteten Angriffe des russischen Militärs und dessen verübte Gewalt gegen ukrainische Zivilisten seien als Terrorismus anerkannt und die russische Föderation gelte als ein Staat, der den Terrorismus unterstütze.


Nach verhängten Geldstrafen ist der Lizenzentzug ein schwerer Schlag für die in Riga lebenden Mitarbeiter, die sogar ihre Ausweisung fürchten müssen. Deren Zahl wird auf 40 bis 45 geschätzt. Zudem sendet eine kleinere Gruppe von Doschd-Journalisten aus Georgien; auch Korostoljow befindet sich dort. Nach dessen Ausspruch hatte ihn die Doschd-Führung entlassen. Das führte zu Unmut in der Belegschaft; drei weitere Mitarbeiter kündigten aus Solidarität mit ihm. Korostoljows Unterstützer halten dessen Satz für falsch interpretiert, weil er sich lediglich auf humanitäre Hilfe für zwangsrekrutierte Soldaten bezogen habe. Doschd-Chefredakteur Tichon Dsjadko kritisiert, dass die NEPLP keine Doschd-Vertreter zum Gespräch luden, um sich verteidigen zu können. Er ist der Ansicht, dass die lettische Entscheidung dem "gesunden Menschenverstand" widerspreche. "Ich sehe, dass wir der hiesigen politischen Konjunktur nicht passen, aber ich bin nicht der Ansicht, dass wir die Sicherheit des lettischen Staats bedrohten. Ich weiß, dass Doschd seit zwölf Jahren bestimmte, ehrliche und klare Positionen einnimmt, die Annexion der Krim verurteilt, den Einfall in die Ukraine und Kriegsverbrechen, die die russische Armee begeht. Und gerade deshalb befindet sich Doschd derzeit nicht in Russland," sagte Dsjadko gegenüber LSM. Er distanzierte sich jedoch von Korostoljows Satz, weil er den Eindruck erwecke, dass sein Sender die russische Armee unterstütze. Aber Doschd habe niemals mit der russischen Armee zusammengearbeitet, um ihr bei der Versorgung zu helfen. Der Sender habe eine E-Mail-Adresse eingerichtet, um Verbrechen russischer Soldaten zu melden, um eine breite Öffentlichkeit über den "kriminellen Charakter der russischen Führung" zu sensibilisieren.


Russische Oppositionelle und kremlkritische Journalisten haben kein Verständnis für die lettische Entscheidung und fordern internationale Solidarität mit Doschd. Das lettische Nachrichtenportal Tvnet zitiert einige ihrer Stellungnahmen (tvnet.lv). Leonid Wolkow, ein Parteigänger von Alexei Nawalny, meinte am Tag der NEPLP-Verlautbarung: "Heute hat Putin ein Fest. In letzter Zeit gab ihm das Leben wenig Anlass zur Freude, doch heute öffnet er im Kreml den Champagner. Möge es das letzte Fest auf seinem Weg sein. Es reicht mit der Unterstützung Putins." Der russische Oppositionspolitiker Lews Schlosberg macht innenpolitische Erwägungen lettischer Politiker für die umstrittene Entscheidung verantwortlich: "Das ist wirklich eine populistische Reaktion auf die Forderung des radikalen Teils der lettischen Gesellschaft, die völlige Derussifizierung der Medien des Landes und des politischen Raums verlangt. Auf dieser Welle reitet derzeit die parlamentarische Mehrheit Lettlands und die von ihr abhängige Regierung. Das ist der Wunsch, das Land zu regieren, indem man sich auf die Kräfte des Hasses verlässt. Das ist sehr gefährlich." Für Kreml-Vertreter Dmitri Peskow erweist sich die Freiheit des Wortes, auf die sich Vertreter des Westens berufen, als Illusion: "Die ganze Zeit scheint es jemandem so, dass es irgendwo besser ist als zuhause und die ganze Zeit scheint es jemandem, dass irgendwo die Freiheit ist, nur nicht zuhause. Das ist eines der herausragenden Beispiele, die den Irrtum solcher Illusionen verdeutlichen." Selbst die umstrittene Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen, deren Kritiker ihr eine einseitige prowestliche Haltung vorwerfen (amerika21.de), bezeichnete den Beschluss als "ernsten Schlag gegen die Informationsfreiheit" (lsm.lv).


NEPLP-Vorsitzender Abolins hatte sich vor der Verkündigung des Lizenzentzugs mit Außenminster Edgars Rinkevics (Jauna Vienotiba) und der Abgeordneten Inara Murniece (Nationale Allianz) getroffen. Er streitet ab, dass sein Gremium politisch beeinflusst sei. Doch dem ehemaligen Journalisten werden enge Kontakte zur mitregierenden Nationalen Allianz nachgesagt. Die NEPLP verhängte 2019 gegen den öffentlich-rechtlichen Sender LTV1 eine Geldbuße, weil er zu ungenau über eine Affaire des Bürgermeisters von Ogre, Egils Helmanis, berichtet habe. Helmanis ist mit Abolins befreundet (lsm.lv). Dass nationalkonservative Politiker Lettlands öffentlich-rechtliche Medien wegen angeblicher "linksliberaler" Gesinnung ins Visier nehmen und die Berichterstattung beeinflussen wollen, ist ein regelmäßig zu beobachtendes Phänomen (z.B. LP: hier). Doch auch der noch amtierende Verteidigungsminister Artis Pabriks (Latvijas Attistibai) meldet sich regelmäßig zu Wort, wenn Journalisten etwas berichten, das nicht seinen Vorstellungen entspricht (z.B. LP: hier). Zum Fall Doschd meinte er: "Es ist völlig klar, dass, wenn sich in Lettland Medienvertreter einer Nachrichtenagentur, des Fernsehens oder sonstige aufhalten, die aus Russland hier um eine befristete Aufenthaltsgenehmigung oder Asyl gebeten haben und in diesem Moment, unter Kriegsbedingungen, wo Russland der totalitäre Aggressor gegen die Ukraine ist, für die russische Position eintreten, für diese werben und der Ansicht sein kann, dass man selbst die russischen Streitkräfte unterstützt, das ist natürlich nach meinem Verständnis nicht vereinbar mit einer Aufenthaltsgenehmigung und einem Aufenthalt auf lettischem Territorium überhaupt. Damit bin ich der Ansicht, dass man ihnen die Lizenz auf diese Weise entziehen muss. Und ich denke, dass man ihre Aufenthaltgenehmigung annullieren muss." (lsm.lv)


"Jeder hat das Recht auf die Freiheit des Wortes, das umfasst die Rechte, Informationen frei zu erhalten, aufzubewahren und zu verbreiten, seine Meinung zu bekunden. Zensur ist verboten," so lautet der Artikel 100 der lettischen Verfassung. Doch mittlerweile bestehen Zweifel, ob lettische Politiker und in ihrem Gefolge die staatliche Medienaufsicht dieses Grundrecht beachten. Nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine verbot der Rat der EU die Ausstrahlung der russischen Staatsmedien RT und Sputnik. Doch die lettischen Verbote gehen weit darüber hinaus. LSM berichtete im März 2022 über NEPLP-Beschlüsse, die Ausstrahlung von 18 russischsprachigen TV-Kanälen und 91 russischsprachige Webseiten zu verbieten oder zu blockieren (lsm.lv). Auch damals begründete Abolins die Entscheidung mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit. Lettische Leitmedien orientieren sich weitgehend an der PR der ukrainischen Regierung. Kritik an deren verkündeten Narrativen über den derzeitigen Krieg ist auf lettischsprachigen Webseiten nicht zu finden. Leser, Hörer und Zuschauer gewinnen den Eindruck, dass die Sanktionsforderungen der lettischen Regierung sinnvoll und Waffenlieferungen notwendig sind und der vollständige ukrainische Sieg alternativlos ist. Der Krieg in der Ukraine wird von lettischen Medien als singuläres Ereignis dargestellt, Vergleiche sind in diesem Diskurs allenfalls nur mit Hitlers Angriffskrieg gestattet. So bleibt nur ein schmaler Korridor, um die ukrainische und europäische Situation darzustellen und einzuschätzen.


Udo Bongartz




      zurück