TV-Diskussionsrunde zur ethnischen Spaltung Lettlands
14.04.2023
Krieg als Zündstoff zur Schaffung einer monoethnischen Nation
Der lettische Nichtbürger-Ausweis, Foto: Volgust, Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link
Seit mehr als 30 Jahren ist Lettland politisch wieder unabhängig, seit mehr als 30 Jahren ist kaum kulturelle und mentale Annäherung zwischen den meisten lettisch- und russischsprachigen Einwohnern des baltischen Landes festzustellen - im Gegenteil: Der Krieg in der Ukraine scheint die Republik weiter zu spalten. Die lettische Politik kennzeichnet seit der wiedererlangten Unabhängigkeit der Versuch, einen sprachlich und ethnisch homogenen Nationalstaat zu schaffen. Nach den bitteren Erfahrungen mit den Russifizierungstendenzen der Sowjetunion kehrten lettische Politiker die Verhältnisse ins Gegenteil: Russen, die nach der sowjetischen Besatzung von 1940 immigriert waren, betrachtet der lettische Gesetzgeber seit den 90er Jahren als “Nichtbürger”, denen das Wahlrecht entzogen wurde. Seit 2004 sind Regierungen bestrebt, die Unterrichtssprache Russisch an den Minderheitenschulen nach und nach abzuschaffen - sehr zum Ärger der russischsprachigen Schüler und Eltern. Die Minderheitenschulen sind ein Erbe der ersten lettischen Republik der zwanziger Jahre, die sich sprachlich und kulturell gegenüber ethnischen Minderheiten deutlich liberaler verhielt als das heutige Lettland, dessen Assimilierungspolitik eher an die Zeit der Ulmanis-Diktatur ab 1934 erinnert. Am 13. April 2023 zeigte die LTV-Sendung “100 g kulturas” eine Diskussion zwischen Angehörigen der lettischen Mehrheit und der russischen Minderheit. Anlass bot der Film “Viss bus labi” (Alles wird gut), der die Lebensgeschichte von Frauen aus einer russischen Familie erzählt, die in den 50er Jahren immigriert war. Einig war sich die Diskussionsrunde in der Ansicht, dass nicht nur “russische Propaganda” zur Spaltung führte, sondern auch die eigene Politik, die allerdings für die einen lediglich zu zaghaft betrieben wurde, für die anderen hingegen in eine fragliche Richtung führt.
Schriftstellerin Rudite Kalpina sieht die Zeiten eines multiethnischen Lettlands endgültig vergangen. Der Krieg in der Ukraine stellt sie als Wendepunkt der lettischen Minderheitenpolitik dar: “Wir müssen begreifen, dass das ein Wendepunkt ist, an dem sich sehr viel ändern wird. Die Klarheit staatlicher Ziele und ihrer Bedeutung wird sich ändern, es wird klarer werden, welches Lettland wir in Zukunft haben wollen. Und ich denke, dass die Rhetorik, die mit einem bi-ethnischen Land verbunden war, einer zweisprachigen Gesellschaft, der Vergangenheit angehört.”
Kulturminister Nauris Puntulis, ein Politiker der Nationalen Allianz, entsprach Kalpinas Vorstellungen. Für ihn besteht der einzige Fehler der lettischen Minderheitenpolitik darin, dass sie die kulturelle Eigenständigkeit der russischsprachigen Einwohner zu zögernd und zaghaft begrenzte. Dass das antifaschistische Siegesdenkmal in Riga-Pardaugava, wichtigstes Identifikationssymbol lettischer Russen, erst im letzten Jahr abgerissen wurde, stellt er ebenfalls als überfällige Aktion dar: “Wir haben uns klar verspätet; bei 30 Jahren für den Übergang zur Ausbildung ausschließlich in der Staatssprache ist das gewiss, dazu gehören auch unsere Okkupationssymbole. Ich habe immer betont, dass dieses Denkmal in Pardaugava, das es nicht mehr gibt, nicht nur ein Denkmal unserer Okkupation, sondern es in seiner Art ein Denkmal unserer Feigheit und Unentschlossenheit war und ich empfinde Genugtuung, dass es dort dieses Denkmal endlich nicht mehr gibt. Heute müssen wir auf die Frage antworten: Wer ist jener oder welche sind jene, die diese bi-ethnische Gesellschaft aufrecht erhalten? Und die Antwort ist recht einfach: Wir sind jene, die sie aufrecht erhalten, indem wir zwei unterschiedliche Ausbildungssysteme in zwei unterschiedlichen Sprachen anbieten, ebenso ist über unterschiedliches Medienverhalten und unterschiedliche Informationsquellen zu sprechen.”
Puntulis hatte zwar verkündet, sich nicht in die Programme lettischer Kulturveranstalter einzumischen und er will ihnen nicht verbieten, russische Autoren oder Komponisten aufzuführen, doch auf Anweisung seines Ministeriums sollen Kulturorganisationen, die seinem Ministerium unterstehen, auf ihren Webseiten die russische Sprache verbannen. Die Kriegszeit macht den Minister martialisch: Den Krieg in der Ukraine bezeichnete er als “Zündstoff”, um in Lettland endlich den monoethnischen Nationalstaat durchzusetzen; das will er mit der Sprache erreichen, die für ihn eine “Waffe” darstellt.
Inna Davidova, Violinistin und Leiterin des Hermans-Brauns-Fonds, zeigte sich angesichts der kontroversen Erinnerungskulturen zwischen Letten und Russen unentschieden: Sie erinnert sich an die russischen Gedenktage ihrer Kindheit, antifaschistische, denn ihr Vater gehörte zu den Leningradern, die von den Deutschen ausgehungert werden sollten. Andererseits hat sie auch Verständnis für das lettische Trauma. Sie verdeutlicht, dass Letten und Russen längst noch nicht zu einer gemeinsamen historischen Erinnerung gefunden haben: “So lautet meine Geschichte, weshalb soll ich davon absagen? Aber wenn ich von Jurmala nach Riga fahre und das geschieht fast täglich, wendet sich mein Kopf auf den Waggon in Tornakalns [ein Denkmal für deportierte Letten in der Stalin-Zeit] und das schmerzt mich täglich. Ich betrachte das nicht als duale Situation, denn ich bin prinzipiell ein monolithischer Mensch. Ich habe ein Bewusstsein, das sich ändern kann. Was sich nicht ändert, das bricht zusammen, das wissen wir auch.”
Philosoph Igors Gubenko sieht die lettische Interpretation, wie der Ukrainekrieg zum Zündstoff für verstärkte Assimilierungspolitik in Lettland werden soll, eher skeptisch und er befürchtete sogar, an Puntulis gewandt, die weitere Emigration russischsprachiger Einwohner: “Mir scheint, dass wir uns in einem Prozess mit schwer vorhersehbarem Ausgang befinden und das ist das, was mich konkret... Vielleicht um es offen auszusprechen, ängstigt, jedenfalls schafft es erkennbar Klärungsdefizite. Was ist der Endpunkt, falls man so sagen kann, dieser verzögerten Veränderungen, über die Sie nun sprechen, über die der Krieg die Augen öffnete oder uns als Nationalstaat ermutigt, nun irgendwelche lange nicht gelösten Fragen zu lösen? Meiner Auffassung nach haben wir, wenn wir auf die Ebene der politischen Rhetorik schauen, eine solche Klarheit nicht vernommen. Möglicherweise liegt das teilweise daran, weil ich dem gesellschaftlichen Teil angehöre, den wir mit Worten wie “Russischsprachige”, “Unlettische” oder “Nichtletten” bezeichnen. Das sind alles problematische Bezeichnungen, aber sie positionieren gleichzeitig die Menschen hinreichend klar. Es fehlt sehr an einem klaren Narrativ der politischen Elite, die allen Betroffenen erklärt: Unsere ganze vielfältige Gesellschaft ist einbezogen; was tatsächlich geschieht, was weiter zu erwarten ist und ob tatsächlich einige gesellschaftliche Gruppen sich Sorgen machen müssen, ob sie in Lettland bleiben können.”
Gubenko erinnerte zudem daran, dass die Tage besserer Beziehungen zu Russland auch für Letten Vorteile mit sich brachte: “Nun zerreißen wir sehr demonstrativ alle Verbindungen mit Russland in allen möglichen Bereichen. In der Mehrheit der Fälle ist es begrüßenswert angesichts des äußeren Kontexts, Krieg. Aber seien wir ehrlich! Wir sind als Land seit langer Zeit in sehr vielen wesentlichen Aspekten von Russland abhängig und dort, wo wirtschaftliche Interessen existieren, dort gab es für bestimmte Personen Vorteile und Verdienst. Wer sind jene Personen, die viele Jahre in Lettland davon profitierten, dass wir friedliche und freundschaftliche Beziehungen mit Russland hatten? Ich denke, dass manch Guter von ihnen heutzutage sehr überzeugt für den Bruch der Beziehungen eintritt, aber es ist klar, dass das für uns von Vorteil war.”
Kalpina hat andere Vorstellungen von der wirtschaftlichen Zukunft Lettlands, wobei sie sich unter “Transformation” die vollständige Anbindung an den Westen vorstellt, die offenbar eine monoethnische Nation zur Voraussetzung hat: “Die Frage, wie wird die Einwohnerschaft Lettlands beschaffen sein, die versucht, die keinem von uns bekannte wirtschaftliche Transformation umzusetzen? Die können wir nicht umsetzen, wenn bei uns keine gesellschaftliche Transformation erfolgen wird. Doch diese gesellschaftliche Transformation wird nicht stattfinden, indem Russen und Letten zusammenströmen. Ich denke, mit der russischen Welt können wir nicht unseren westlichen Kurs beibehalten. Es ist schwer und lästig, sich seit 30 Jahren mit dem russischen Problem auseinanderzusetzen. Das saugt die Kräfte auf, das saugt Energie für Entwicklung, denn die ganze Zeit muss irgendwas erklärt werden. Aber das Problem besteht und jetzt, so scheint mir, stellt es sich heraus, dass du niemanden integrieren kannst, wenn er selbst nicht integriert werden möchte.”
Gubenko erkannte in der lettischen Argumentation einen Widerspruch: Sogenannte westliche Werte einfordern, ohne sich selbst daran zu halten. Er erinnerte daran, dass es seit der Jahrtausendwende für Lettland durch Beitritt zur EU und zur NATO viel leichter ist, sich von Russlands Einflusssphäre abzuwenden. Im Westen werde Vielfalt aber akzeptiert und nicht bekämpft: “Lettland sollte sich diesmal tatsächlich konsequent für westliche Werte einsetzen; und da sehe ich das Problem, dass ein Teil jener, die sehr aktiv sich gegen die russische Kultur wenden, gegen den Gebrauch der russischen Sprache, keine Vertreter westlicher Werte sind.”
Udo Bongartz
Atpakaï