Lettisches Centrum Münster e.V.

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"Das Institut in Riga": Uta von Arnims Recherche über die NS-Vergangenheit ihres Großvaters Herbert Bernsdorff in Riga
06.01.2022


Zu einer Elite gehören, mit Führerprinzip und einem klaren Wertesystem

Buchcover, Foto: Nagel & Kimche

“Opa war kein Mörder” propagieren Rechtsradikale (wetterauer-zeitung), um Schuldvorwürfe gegen die angeblich anständigen deutschen Vorfahren zurückzuweisen. Eine beinahe unendliche Fülle von Büchern, Dokumentationen und Ausstellungen über die NS-Herrschaft verdeutlichen, wie tief viele Deutsche in die NS-Verbrechen verstrickt waren. Darüber wird in vielen Familien bis heute geschwiegen. Viele Untaten, die Soldaten, Polizisten, Parteimitglieder, Beamte und Angestellte begingen, blieben unentdeckt und ungesühnt; die Täter schwiegen und passten sich nach dem Krieg den neuen Verhältnissen an. Uta von Arnim, eine Berliner Ärztin und Journalistin, stellte sich der Aufgabe, die NS-Vergangenheit ihres netten Opas Herbert Bernsdorff in Archiven zu recherchieren. Sie fand heraus, dass jener ältere, gut aussehende und sympathische Landarzt, der 1968 starb, während der deutschen Besatzung als oberster NS-Mediziner im Baltikum befehligt hatte.  


Von Arnims Buch “Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner `Forschung`” könnte mit einem gut formulierten Roman verwechselt werden, wenn die zahlreichen Fußnoten fehlten, die belegen, dass hier keine literarische Fiktion erzählt wird, sondern sich das Erzählte tatsächlich zugetragen hat. Die Autorin dokumentiert auf mehreren zeitlichen Ebenen, bezieht auch ihre eigenen Erinnerungen an den Großvater ein, den sie als Kleinkind noch erlebt hatte. Die freundlichen (Ur-)Großväter, die lieb zu ihren Enkelinnen und Enkeln waren (eine “Wiedergutmachung”?), erzählten nicht viel vom persönlich Erlebten. Waren sie traumatisiert oder hatten sie vergessen und verdrängt? Aus manchen Ungereimtheiten und Fragwürdigkeiten ließ sich heraushören, dass mit Opas Vergangenheit etwas nicht stimmt.


Bernsdorff hatte vermutlich nichts vergessen, nur über das geschwiegen, mit dem er in den 60er Jahren seinem Ruf geschadet und gerichtliche Instanzen auf sich aufmerksam gemacht hätte. Ruf, Prestige, gesellschaftliches Ansehen und sozialer Status waren in seinem Leben maßgeblich; das lässt sich aus den Beschreibungen seiner Enkelin herauslesen. Daraus lässt sich die Motivation erklären, unter wechselnden Verhältnissen eine besondere Rolle spielen und oben bleiben zu wollen. Das Besondere prägt die deutschbaltische Herkunft, das Milieu, das auf dem Kleistenhof im Norden Rigas, dem idyllischen Erbe seiner Gemahlin, verkehrt, auf dem es im frühen 19. Jahrhundert zarenfreundlich zuging: “Das liebe Kleistenhof, das mit deutschbaltischer Gastfreundschaft alle aufnimmt, die zur guten Gesellschaft gehören. Das den Überfluss teilt mit Gästen, die sonntags um eins an der offenen Mittagstafel sitzen und den ritterlichen Zar Nikolai I. enthusiastisch lobpreisen und das tapfere unüberwindliche russische Heer.”1


Bernsdorff wächst in deutschbaltischer Tradition auf, studiert wie sein Vater Medizin in Dorpat (heute Tartu), kommt mit adeligen Söhnen in der Fraternitas Rigensis zusammen. Von Arnim beschreibt diese Dorpater Studentenverbindung als elitäre Gemeinschaft, in der Befehl und Gehorsam eingeübt wurden, sowohl das Befehlen als auch das Gehorchen als wichtigste Merkmale sozialer Beziehungen. Im Krieg diente er zunächst in der russischen Armee als Lazarettarzt. Später versorgte er die Verwundeten der Baltischen Landeswehr, also jener militärischen Formation, die gegen lettische Republikaner um ihre soziale Vormachtstellung kämpfte. Als diese endgültig verloren ging, emigrierte Bernsdorff nach München, wo er sich mit Gesinnungsgefährten aus der Heimat traf. Die sozialen Hierarchie-Vorstellungen der Nationalsozialisten waren für jene, die sich selbst zur Elite zählten, durchaus attraktiv.


Ein Vorzug dieses speziellen Blicks auf die NS-Geschichte sind die weitgehend unbekannten Details. Akademische und adelige Deutschbalten, die sich der NS-Bewegung anschlossen, waren keine Einzelfälle. Alfred Rosenberg war lediglich der prominenteste Deutschbalte in Hitlers Reihen, aber gewiss nicht der einzige. Bernsdorff wurde Mitglied der “Baltischen Brüderschaft”, einer Gruppe rechtsradikal gesinnter Deutschbalten im reichsdeutschen Exil. Über diese Gruppe steht im bisherigen Wikipedia-Eintrag (5.1.2022) lediglich Selbstverharmlosendes (wikipedia.de). Daher möchte ich an dieser Stelle von Arnims Beschreibung zitieren:


“In München, der Hauptstadt der Bewegung, finden sich heimatlose Deutschbalten. Exilanten wie er [Bernsdorff]. Die gelernt haben, hart zu werden und kampfesfroh. Sie treffen sich im Geheimbund X, später Baltische Brüderschaft genannt. Wieder eine Gemeinschaft, die sich in einer feindlichen Umgebung kämpfen sieht, in der Nachfolge der Mönchsorden, die dem Baltikum das Christentum brachten, mit Feuer und Schwert. Eine Gemeinschaft, die Bernsdorff Halt gibt, das Gefühl, einer Elite zugehörig zu sein mit Führerprinzip und einem klaren Wertesystem. Werten, die dem Nationalsozialismus nahestehen, antidemokratisch, autoritär, deutschnational. Mitgefühl für Schwächere gilt unter den Brüdern als schwächliche humane Gefühlsduselei.”2


Das elitäre Bewusstsein, der deutschbaltischen Oberschicht anzugehören, prädestinierte zur führenden Rolle in der NS-Herrschaft. Bernsdorff beginnt seine Tätigkeit als Gesundheitspolitiker, als “Beauftragter des Reichsärzteführers für die Alten, Kranken und Siechen”. Zu seinen Aufgaben gehört es, die “Geisteskranken” aus den Psychiatrien des Baltikums ins Reich zu bringen. Ihr weiteres Schicksal ist ihm gleichgültig: “Außerdem lege ich keinen Wert auf die Behandlung kranker Menschen,” schreibt ein Arzt, der nun überindividuellen, völkischen Zielen dient.


Sein Aufstieg zum mächtigsten Arzt des Ostlands, ein Territorium, das die deutschen Besatzer aus den baltischen Ländern und Weißrussland geformt hatten, ist geziert mit entsprechender Beamtenuniform: “aus dunkelbraunem Uniformstoff mit dem Dienstgradabzeichen, hufeisenförmiges Eichenlaub in goldener Stickerei auf dem unteren Teil des linken Ärmels und einer goldenen Mützenkordel.”3 Im Zenit seiner Macht leitet er die Abteilung Gesundheit und Volkspflege der deutschen Verwaltung, wird ein Ausgezeichneter: “Mit einer Fülle von Titeln und Funktionen. Vom Ministerialrat steigt er auf zum Landesdirigenten, vom Beauftragten des Reichsärzteführers zum Gesundheitsführer des Ostlandes. Er wird zum SA-Hauptsturmführer ernannt, ist Leiter des Arbeitsgebietes Gesundheit bei der NSDAP Landesleitung Ostland. Und wissenschaftlicher Hauptrat im wissenschaftlichen Beirat des Reichskommissars, zuständig auch für die medizinische Forschung.”4


Er ist auch zuständig für jene Anstalten, deren Insassen der NS-Ideologie als Schädlinge am Volkskörper galten: “In seine Verantwortung fallen Krankenhäuser und Anstalten, Lazarette und Sanatorien: psychiatrische Anstalten, Taubstummenanstalten, Anstalten für asoziale Jugendliche, Kriegsgefangenenlazerette, SS-Lazarette, Wehrmachtslazarette, Tuberkolose-Sanatorien, Leprosorien und Krüppelheime, Einrichtungen für Behinderte, Sieche und Süchtige.” Von Arnim findet nichts zu Bernsdorffs Entlastung. Als Schreibtischtäter hat er mit seinen Entscheidungen die Verbrechen, die an diesen Opfergruppen begangen wurden, mit zu verantworten.


Zu verantworten hatte Bernsdorff auch die Seuchenbekämpfung, die sich in der NS-Zeit zu einem zynisch vieldeutigen Begriff entwickelte. Der Kleistenhof, die Hinterlassenschaft seiner Vorfahren, wird zum Forschungszentrum zur Entwicklung eines Serums oder Impfstoffs gegen Fleckfieber. Juden aus dem KZ Kaiserwald dienen als Versuchspersonen. Die Geschichte dieses Instituts steht im Zentrum des Buchs. Mit ihr ist die Darstellung von Zeitzeugen im Umkreis Bernsdorffs verbunden; sie erweisen sich als Kippfiguren zwischen Recht und Unrecht, sind Opfer und Täter zugleich.  


Uta von Arnim ist ein lesenswertes Buch gelungen, das sich in einem weniger belasteten Kontext als “unterhaltsam” bezeichnen ließe. Darüber hinaus liefert es einen aufschlussreichen Einblick in die Medizingeschichte des NS-Ostlandes. Die Lektüre des Buchs “impft” gegen die Verlogenheit von Schlussstrichdebatten: Dort, wo ge- und verschwiegen wird, kommen die Dinge nicht ins Reine und die Schatten der Vergangenheit spuken unbehelligt weiter.

 

UB 


Quelle:

Uta von Arnim: Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner Forschung. Zürich: Nagel & Kimche, 2021 


Zitatangaben aus dem Buch:

 

1 S. 19

2 S. 27

3 S. 46

4 S. 47 




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