Lettland: Koalition streitet um Sprachprüfungen für Einwohner mit russischem Pass
16.02.2023
Bürgerrechtsbeauftragter Jansons warnt vor langen Warteschlangen
Russischer Pass, Foto: Gemeinfrei Link
Seit dem Angriff russischer Truppen auf das Territorium der Ukraine befinden sich lettische Einwohner, die im Verdacht stehen, mit der russischen Regierung zu sympathisieren, im Visier der lettischen Behörden. An der Grenze zu Russland erwartet sie bei der Einreise eine Gesinnungsprobe (LP: hier) und Journalisten, die aus russischer Perspektive berichten, beobachtet der Geheimdienst, gegen sie ermittelt die Justiz (LP: hier). Etwa 18.000 Einwohner Lettlands, die als ehemalige Staats- oder Nichtbürger der Baltenrepublik nun im Besitz eines russischen Passes sind, aber weiterhin die behördliche Genehmigung haben, in Lettland zu bleiben, müssen demnächst eine neue Auflage erfüllen: Sie sollen lettische Sprachkenntnisse auf A2-Niveau nachweisen; das entspricht dem Übergang von Anfänger- zu Fortgeschrittenenkenntnissen. Innenminister Maris Kucinskis (Vereinigte Liste, AS) warnt vor langen Warteschlangen und wünscht Änderungen; doch die Koalitionspartner lehnen seine Vorschläge ab.
Kurz vor den Parlamentswahlen im letzten Herbst beschloss die 13. Saeima noch das Gesetz, das in Lettland wohnende Einwohner mit russischem Pass fortan dazu verpflichtet, Sprachkenntnisse nachzuweisen. Andernfalls verlieren sie ihre Aufenthaltsberechtigung und sollen nach dem 1. September 2023 ausgewiesen werden. Bis zum 24. März sollen Betroffene den Antrag auf eine Sprachprüfung stellen. Ab Mitte April werden ihre Lettischkenntnisse getestet.
Der Bürgerrechtsbeauftragte Juris Jansons warnte in einer Pressekonferenz vor langen Warteschlangen (lsm.lv). Er wies auf Erfahrungen mit dem Personalausweis in den Meldeämtern hin. Ab Mai 2023 sind lettische Bürger und Nichtbürger verpflichtet, sich mit der ID-Karte auszuweisen. Die Antragssteller müssen oftmals lange vor den Ämtern ausharren, in den Wintermonaten in Eis und Schnee. Außerdem wies Jansons darauf hin, dass die App, mit der man Wartenummern online anfordern kann, nicht zuverlässig funktioniere. Ähnliche Zustände befürchtet der Jurist auch vor den Eingängen der Migrationsbehörde PMPL, wo Einwohner mit russischem Pass sich ihren Aufenthalt genehmigen lassen müssen. Er hält das Personal für schlecht bezahlt und überlastet. Die Situation sei “völlig unannehmbar”; er sieht darin systemische Organisationsprobleme, die die Autorität der staatlichen Verwaltung beschädigten. In letzter Zeit stellte die Migrationsbehörde 40 neue Mitarbeiter ein. Ob der Andrang jetzt besser bewältigt wird, geht aus Medienberichten noch nicht hervor.
Jansons appellierte am 8. Februar 2023 an das zuständige Innenministerium: “Von den Bürgern gingen Klagen ein, ebenso verfolgen wir die Informationen in der Öffentlichkeit und es ist völlig klar, dass dies keine Respektbekundung im Verhältnis zu den Leistungsempfängern ist. Wir bitten wiederholt das verantwortliche Ministerium, darüber zu informieren, ob und welche Maßnahmen geplant sind, um den Zustand schnell zu verbessern.”
Gleich am nächsten Tag reagierte der zuständige Innenminister Kucinskis und schlug vor, das Gesetz aus dem letzten Herbst zu mildern (lsm.lv). Nur jene sollen Sprachkenntnisse nachweisen, die gerade eine Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung beantragen, die auf fünf Jahre befristet ist und dann erneuert werden muss. Dann müssten sich die PMPL-Mitarbeiter in diesem Jahr nicht um 18.000, sondern nur um 4.000 Antragsteller kümmern.
Laut LSM schien der Koalitionspartner Jauna Vienotiba zunächst für Kucinskis Vorschlag, der eine Gesetzesänderung erfordert, aufgeschlossen. Doch andere Regierungspartner sträuben sich. Erwartungsgemäß will die mitregierende Nationale Allianz (NA) von einer “Aufweichung” des Gesetzes nichts wissen. Die Nationalkonservativen widersetzen sich der Hoffnung des Innenministers, mit Hilfe der Opposition die nötigen Stimmen zu erhalten. Der stellvertretende NA-Fraktionsvorsitzende Janis Dombrava verlautbarte der Presse nach einer Koalitionssitzung am Mittwoch: “In nächster Zeit werden die Gespräche und Diskussionen über diese Frage fortgesetzt. Aber nicht derart, dass Hoffnung auf eine Prüfung solcher Änderungen besteht, für die die Unterstützung der einen oder anderen Oppositionspartei erforderlich wäre.” Die Mehrheit im Kabinett und in den Regierungsfraktionen ist nicht bereit, Kucinskis Vorschlag zuzustimmen. Raimonds Bergmanis, der einst im Kabinett seines Parteifreundes als Verteidigungsminister amtierte, fand kaum hilfreiche Worte: “Ich hoffe sehr darauf, dass das Innenministerium irgendeine Lösung für diese Fragen findet, damit es nicht zu einem offenen Rechtsbruch kommen wird.”
Die Mitglieder der Regierungsfraktionen ließen sich hinter verschlossenen Türen von den Leitern der Migrationsbehörde über die Lage informieren; eine Lösung wurde offenbar nicht gefunden. PMPL-Vorsitzende Maira Roze wies vor Journalisten darauf hin, dass Einwohner mit russischem Pass nach dem 1. September 2023 nicht automatisch ausgewiesen werden können: “Gewiss wird das möglichst schnell bearbeitet. Aber der Entscheidungsprozess für jede einzelne Person könnte sich sogar bis zu einem Jahr hinziehen. Das könnten zumindest drei, vier oder sechs Monate werden. Das hängt davon ab, wie schnell wir alle Informationen [von den Sicherheitsbehörden] erhalten werden.” (tv3.lv)
Seit knapp zwei Wochen nimmt das staatliche Zentrum für Bildungsinhalte Anträge auf A2-Sprachprüfungen entgegen; bislang meldeten sich pro Tag durchschnittlich 200 Bewerber. Etwa 2000 Anträge liegen inzwischen vor, davon stammen 1257 aus Riga und 372 aus Daugavpils, der Stadt mit einem hohen Anteil russischsprachiger Einwohner (jauns.lv). Sandra Puce, Leiterin des psychiatrischen und narkologischen Zentrums in Riga, der größten psychiatrischen Anstalt des Landes, berichtete über die Nachfrage nach ärztlichen Attesten, um sich von der Sprachprüfung freizustellen. Puces Klinik hat bislang 97 Anträge erhalten; 22 wurde die mangelnde Eignung für einen solchen Test bescheinigt. Auch Puce weist auf Kapazitätsprobleme: “Meistens sind es in die Jahre gekommene, recht alte Menschen, die schon medizinisch behandelt wurden. Sie haben Demenzen, organisch bedingte Persönlichkeitsstörungen mit einem breiten Spektrum von Symptomen. Dann jene, die bereits behandelt wurden, schon bei einem Spezialisten waren. Wir hoffen, dass keine große Nachfrage bestehen wird, denn wir haben auch nicht jene Kapazitäten, um alle bedienen zu können.” Sie nimmt an, dass die Zahl jener, die sich aus medizinischen Gründen befreien lässt, deutlich höher ausfällt, weil auch andere Psychiater in anderen Kliniken oder Praxen solche Atteste ausstellen können.
Udo Bongartz
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