19,3 Prozent - Lettische Jahresinflation im Juni 2022 auf Rekordhöhe
13.07.2022
EU-Sanktionspolitik als russisches Roulette
Jahresinflationsrate ausgewählter Länder, Quelle: tradingeconomics.com
Die lettische Jahresinflation erreichte Ende Juni 2022 mit 19,3 Prozent einen neuen Negativrekord. Im sogenannten “fetten Jahr” 2008, als die hohe Inflationsrate die überhitzte lettische Konjunktur anzeigte, betrug der Spitzenwert im Mai des Jahres, kurz vor den Bankenpleiten, 17,9 Prozent. Damals war Lettland trauriger EU-Spitzenreiter, heutzutage wird es von seinen baltischen Nachbarn sogar noch überholt (lsm.lv). Die stetige Verteuerung, die erhebliche Kaufkraftverluste in allen Teilen der Bevölkerung bewirkt, begann mit unterbrochenen Lieferketten der weltweit betriebenen Lockdown-Politik. Nun verschärft die westliche Energie-Embargo-Strategie gegen Russland die Situation nochmals, auf die der Kreml mit reduzierten Lieferungen reagiert, entweder aus technischen Gründen oder aus taktischem Kalkül. Merkwürdigerweise wird im Diskurs der westlichen Öffentlichkeit die Boykottpolitik gewünscht, aber ein möglicher russischer Lieferstopp kritisiert. Ausbleibende russische Gas- und Öllieferungen, die immer noch Basisrohstoffe der meisten europäischen Industriegesellschaften darstellen, sind kaum zu erschwinglichen Preisen in absehbarer Zeit ersetzbar. Ieva Opmane, Ökonomin der Lettischen Nationalbank, beschreibt die Auswirkungen für lettische Verbraucher.
Die Einwohner in ärmeren EU-Ländern trifft die Inflation härter als in reicheren. Seit 2015 haben sich die lettischen Verbraucherpreise um 33,5 Prozent verteuert. Da die Frankfurter EZB vor der Pandemie meistens damit beschäftigt war, mit Niedrigzinspolitik eine Deflation zu verhindern, sind die enormen Preissteigerungen vor allem den letzten Monaten geschuldet. Ieva Opmane beschreibt, weshalb die Inflation ärmere Länder und ärmere Bürger stärker trifft: Immer höhere Preise werden vor allem auf Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs erhoben, denen man kaum entkommen kann. “In den größeren und reicheren Ländern bleibt Geld für verschiedene Dienstleistungen und Güter übrig. Bei denen steigen auch die Benzin- und Lebensmittelpreise, aber im Vergleich mit dem Gesamtverbrauch ist der Anstieg weniger spürbar. Wir hingegen empfinden ihn viel direkter und schmerzlicher.” (lsm.lv)
Opmane erläutert, dass die Inflationsrate eine statistische Größe darstellt, die sich aufgrund eines Warenkorbs errechnet. Die individuelle Preissteigerung kann sich davon deutlich unterscheiden: “Die Oma auf dem Lande, die sich vom im Kleingarten Erzeugten ernährt, kennt vielleicht die Preise gar nicht, die man im Geschäft für Kartoffeln bezahlt; die meisten lettischen Einwohner rauchen nicht, so mancher war vielleicht schon seit zehn Jahren nicht mehr im Theater; dennoch werden solche und viele weitere Dienstleistungen und Waren entsprechend ihren Verbrauchsanteilen in die Berechnung der Jahresinflation einbezogen.” Wenn man allerdings für jene Waren und Dienstleistungen deutlich mehr bezahlen muss, die für den täglichen Bedarf unentbehrlich sind, gestaltet sich die Inflation für den einzelnen deutlich höher, als es die allgemeine Inflationsrate vermuten lässt: “Zum Beispiel wurden Kartoffeln und Milch im April im Vergleich zum April des Vorjahres um annähernd 50 Prozent teurer, Milch, Reis und Öl um annähernd ein Drittel. Für andere Produkte fielen die Preissteigerungen deutlich geringer aus, beispielsweise für Bier weniger als 5 Prozent,” erläutert Opmane. Die Ökonomin prognostiziert keine schönen Aussichten für die kommenden Monate: “Das, was wir sehen, wenn wir das Ende des Sommers und den Herbst in Betracht ziehen, sind dennoch recht viele Güter, deren Preise weiter steigen und steigen werden. Es werden einige neue Tarife für Heizung und Gas angekündigt, das alles steht noch bevor und hier werden die Preise steigen.” (makroekonomika.lv)
Die EU-Sanktionspolitik erinnert an russisches Roulette: Noch ist nicht absehbar, wen sie als ersten trifft. Der Euro fällt erstmals nach 20 Jahren wieder auf den Gleichstand mit dem Dollar zurück. Der Rubel hat einen höheren Wert als vor Kriegsbeginn (de.statista.com). Indien und China freuen sich über Öl-, Kohle- und Gaslieferungen aus Russland, auf die der Westen verzichtet (standard.de). China, Indien, Brasilien und Südafrika und eigentlich alle Länder weltweit, die nicht zu den wohlhabenden OECD-Mitgliedern zählen, sind nicht bereit, sich dem westlichen Embargo gegen Russland anzuschließen (nordkurier.de). Doch bei sommerlichen Temperaturen hält das Narrativ und Parteien, die die Sanktionspolitik befürworten, befinden sich im Umfragehoch, in Deutschland (wahlrecht.de) ebenso wie in Lettland (puaro.lv).
Der Brüsseler LSM-Korrespondent Artjoms Konohovs berichtet, was zum Narrativ passt. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck habe es als “großen Fehler” seines Landes bezeichnet, sich auf russisches Gas zu verlassen. Nun müsse die in Jahrzehnten aufgebaute Abhängigkeit in wenigen Monaten unterbrochen werden (lsm.lv). Falls Habeck diese Aussage so tätigte (eine genaue Quellenangabe fehlt), ist es ein Affront gegen den sozialdemokratischen Koalitionspartner, der seit Willy Brandts Zeiten eine Entspannungspolitik favorisierte, die wirtschaftlichen Austausch mit der Sowjetunion bzw. Russland einbezog, stets zum Argwohn des großen Bruders in Übersee.
Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, ein Lobbyverband deutscher Unternehmen, der an guten Geschäftsbeziehungen zu Russland interessiert ist, erinnerte im Februar 2020 daran, dass 1970 den Ostverträgen der Brandt-Ära der erste Erdgas-Röhren-Vertrag zwischen deutschen Unternehmen und der Sowjetunion vorausging (ost-ausschuss.de). Deutsche Firmen lieferten Röhren für sibirische Pipelines, die Sowjets im Gegenzug Gas. Entspannungspolitik bedeutete stets auch Energiepartnerschaft. Von Brandts Ostpolitik über den KSZE-Prozess bis zum Fall der Berliner Mauer, den Brandt als ehemaliger Westberliner Bürgermeister gewünscht hatte, lässt sich eine Linie zeichnen. Doch sie wird heutzutage gerade in Osteuropa, wo man sich eng an der Seite der USA wähnt, als “Appeasement”-Politik verkannt und verhöhnt.
Wintershall-Manager Mario Mehren beschreibt, dass ein sozialdemokratischer Vorgänger des heutigen deutschen Bundeskanzlers sich US-amerikanischen Vorhaltungen noch zu erwehren wusste. US-Präsidenten waren die deutsch-sowjetischen Gasgeschäfte nie geheuer. 1982 kam es abermals zum offenen Streit zwischen dem Weißen Haus und dem Bonner Bundeskanzleramt. Deutschland lieferte damals an die UdSSR Röhren und Kompressoren und erhielt dafür 40 Milliarden Kubikmeter Gas. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan und Verhängung des Kriegsrechts in Polen war die internationale Lage auch damals angespannt.
Mehren zum Fortgang: “Im Weißen Haus und im Pentagon dominieren die Hardliner und drohen der deutschen Regierung. Die Reagan-Administration untersagt amerikanischen Firmen, ihre Technologie beizusteuern. Der US-amerikanische Außenminister Alexander Haig tritt über diesen Pipeline-Streit zurück. Bundeskanzler Schmidt reagiert mit klarer Kante und ironischem Kommentar auf die US-Einmischung in die europäische Wirtschaft: Immerhin brauche die UdSSR doch westliche Devisen, um in den USA weiter Getreide zu kaufen. Ein Senator aus Alaska schlägt vor, dass die Europäer das russische Gas ersetzen sollten – und zwar durch Gas aus Alaska. Und er fordert, US-Truppen aus Deutschland abzuziehen, denn die Russen könnten dort jederzeit den Strom abdrehen. Das alles liest sich aus heutiger Sicht absurd. Aber auf den zweiten Blick zeigt sich, wie ähnlich unsere Situation derzeit ist.”
Mehren wies Anfang 2020 noch darauf hin, wie wichtig Pipelinegas ist, um ein niedriges Gaspreisniveau zu garantieren. Von diesem Trumpf würden europäische Verbraucher tagtäglich profitieren “und es stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie gegenüber den Konkurrenten aus Asien und den USA.” So ähnlich ist die Situation offenbar nicht; Helmut Schmidt ist gestorben und sein Parteigänger Klaus von Dohnany nicht mehr im Amt.
Udo Bongartz
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