Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Covid-19-Krise: Lettischer Polizeichef wegen zunehmender Aggression besorgt
29.01.2021


Trotz verschärfter Bestimmungen verharren die Infektionszahlen auf hohem Niveau

Kein Gast, nirgend, Rigas Altstadt in der Pandemiezeit, Foto: Changall CC BY-SA 4.0, Saite

“Offen gesagt: mich beunruhigen diese Angriffe und Feindlichkeiten schon etwas,” bekannte Armands Ruks, Leiter der lettischen Polizei im Interview mit der Zeitschrift SestDiena. Gegen Polizisten verhalte man sich immer gewalttätiger, versuche sie sogar zu schlagen und zu treten (nra.lv). Seit dem Frühjahr hat sich die Stimmung offenbar verschlechtert. Eine Minderheit unter Jugendlichen und Erwachsenen, die die Warnungen vor der Pandemie für übertrieben oder sogar für hysterisch hält, missachtet die Bestimmungen. Die Virusskeptiker werden aggressiv, wenn die Polizei sie erwischt. Die nächtlichen Ausgangssperren, die seit Silvester von 22 bis 5 Uhr an Wochenenden gelten, verschärfen die Situation. Trotzdem bleibt die Zahl der Neuinfektionen hoch.

Kurz vor dem Jahreswechsel führte die Regierung quasi über Nacht eine nächtliche Ausgangssperre ein, um Kontakte zu vermindern. Wer nach einem schwierigen Jahr das neue mit Freunden begrüßen wollte, sah sich nun verpflichtet, zuhause zu bleiben. Fast 2000 Ordnungshüter, Polizisten, Grenzschützer und Nationalgardisten kontrollierten in der Silvesternacht nächtliche Passanten. Während der Ausgangssperre ist nur die Fahrt von oder zur Arbeit gestattet oder der medizinisch notwendige Gang zur Arztpraxis oder Apotheke. Wer unterwegs ist, muss eine Bescheinigung mit sich führen. Wer keine hat und behauptet, dringend zur Apotheke zu müssen, muss damit rechnen, dass ihn Polizisten begleiten, um die Aussage zu überprüfen. Von mehr als 5300 kontrollierten Personen wurde die Hälfte verwarnt und gegen etwa 1600 Personen wegen ordnungswidrigen Verhaltens ermittelt; ihnen drohen Strafen zwischen 300 und 2000 Euro (vp.gov.lv).

Das nächtliche Ausgehverbot blieb auch an den letzten Wochenenden in Kraft. In der Nacht zum 23. Januar ermittelten die Polizisten an einem gewöhnlichen Wochenende zwar deutlich weniger Verstöße, doch in einigen Fällen reagierten die nächtlichen Passanten recht wütend. In Liepaja hielt sich ein Mann zu nächtlicher Stunde im Hinterhof eines Häuserblocks auf. Als Polizisten seine Papiere verlangten, antwortete er nicht, verhielt sich aggressiv und ließ seinen großen Hund los. Er wurde festgenommen und nun wird wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gegen ihn ermittelt. Bei so manchen ist Alkohol im Spiel. In Jurmala behauptete ein Fahrer, er habe vergessen, seine Bescheinigung auszufüllen und sich auf dem Weg zur Tankstelle befunden. Die Alkoholprobe ergab 1,35 Promille (apollo.lv). In Smiltene wurde ein Alkoholisierter in derselben Nacht gleich zweimal erwischt.

Feiern mit Teilnehmern aus mehreren Haushalten sind nicht nur am Wochenende untersagt. Am Dienstagabend informierten Nachbarn die Rigaer Polizei, weil aus einer Wohnung laute Musik lärmte. “In dem Moment, als die Polizisten die Wohnung betraten, hatten sich die meisten der Partygänger versteckt, jemand unter dem Bett, jemand im Schrank. Der reich gedeckte Tisch und geleerte Alkoholflaschen, welche zu erblicken waren, zeigten klar, dass mehr Menschen anwesend waren, als es zunächst den Anschein hatte,” beschrieb Toms Sadovskis, Vertreter der städtischen Polizei Rigas die Situation. Als die Geißlein in ihren Verstecken doch erwischt wurden, wollten sie sich mit unschuldigem Gesicht davonstehlen, was aber misslang. Die Polizisten fanden 16 junge Erwachsene vor, Austauschstudenten aus Frankreich und Italien, die ihre Ankunft feiern wollten. Sie müssen nun pro Person 300 Euro Geldbuße zahlen. Sie behaupteten, von den lettischen Pandemiebestimmungen nichts gewusst zu haben. Doch ihre private Hochschule Turiba entgegnet, alle Studierende ausführlich informiert zu haben. Nach Sadovskis` Aussage erhält seine Dienststelle immer öfter Anrufe, um verbotene Partys beenden. 

Nachtwanderungen und Feten können auch als kritische Stellungnahme gegen die offizielle Pandemiebekämpfung betrachtet werden. Am 12. Dezember protestierten Corona-Skeptiker am Rigaer Daugava-Ufer und missachteten die Demo-Auflagen: Statt der erlaubten 25 Teilnehmer fand sich eine Menge von mehreren hundert meistens ohne Mundschutz ein. Die Polizei leitete Ermittlungen ein. Sozialanthropologin Aivita Putnina vermutet, dass sich hinter den Protesten der Skeptiker mehr verbirgt: “Es reicht nicht, ihnen zu sagen, wie außerordentlich schlimm es ist, an Covid-19 zu erkranken. Das Problem ist ein anderes. Sie möchten als Menschen respektiert werden. Dieses Problem liegt deutlich tiefer. Populisten nutzen es aus, weil sich viele Menschen im Stich gelassen fühlen und der Ansicht sind, dass ihre Interessen nicht berücksichtigt werden, dass sie nicht beachtet werden, dass sie, außer in Wahlkampfzeiten, nichts zu sagen haben.” (lsm.lv) So betrachtet, verbirgt sich hinter den Corona-Protesten offenbar eine unausgegorene Kritik an den nicht durchschauten Machtverhältnissen, die, weltweit vernetzt, Rechtsradikale für die eigenen Ziele ausnutzen.

Trotz der verschärften Bestimmungen und der Verstimmung in Teilen der Bevölkerung bleiben die Infektionszahlen auf hohem Niveau. Die aktuelle 14tägige Inzidenzzahl (29.1.21) beträgt für Lettland 595,8 auf 100.000 Einwohner, gleich hinter Litauen mit 598,4. Damit gehört Lettland inzwischen zu den zehn gefährdetsten Gebieten Europas (zum Vergleich: Portugal 1429,4; Estland 521,7; Schweiz 339,2; Italien 315,2; Deutschland 265,8; Österreich 246,4 (spkc.gov.lv)). Die Lage in den lettischen Krankenhäusern und Pflegeheimen ist weiter angespannt. Die Regierung genehmigt dem Personal Zuzahlungen. Horrorbilder wie von nächtlichen Leichentransporten mit Militärfahrzeugen sind bislang nicht zu sehen. Noch lässt sich der Ausnahmezustand regeln. Derzeit behandeln Ärzte und Pfleger etwa 1000 Covid-19-Patienten auf lettischen Stationen. Liene Cipule, Leiterin des medizinischen Rettungsdiensts NMPD beschreibt die Situation als stabil, aber sie belaste das Personal immer mehr. Täglich erhalte ihr Dienst etwa hundert Notrufe wegen Covid-19-Infektionen. Die Lage könne sich deutlich verschlechtern, wenn sich die neue infektiösere Virus-Variante verbreite. Dann prognostiziert Cipule übergangslos die dritte Corona-Welle, dann könne sich die Zahl der Covid-Patienten in den Kliniken auf 2000 bis 3000 erhöhen.



 


 
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