Der 150. Geburtstag des lettischen Dichters Janis Poruks
27.10.2021
Von der Weigerung, sich der bürgerlichen Welt anzupassen
Janis Poruks, Foto: Saite
Benedikts Kalnacs beschreibt Poruks als "herausragenden Vertreter der lettischen Literatur" um 1900 (enciklopedija.lv). Er habe sich in seinem Werk die wesentlichen Fragen der physischen und geistigen Existenz des Menschen gestellt. Der Dichter nutzte dafür Stilformen der Neuromantik und des Symbolismus`. Seine als "Fantasie" bezeichnete Novelle "Pehrlu Swejneeks" (Perlenfischer) erzählt, wie die Hauptfigur Ansis Vairogs bei seinem Dresdener Studienaufenthalt sich durch Kunsterlebnisse und durch ein sehnsuchtsvolles Liebesabenteuer von der profanen Bürgerwelt entfremdet und schließlich einen glücklichen Tod stirbt. (Die LP stellte das Werk bereits vor, siehe dazu auch Ilze Plaudes deutschsprachigen Artikel auf kulturkanons.lv). Kalnacs bezeichnet dieses Buch als "Bildungsroman", doch aus bürgerlicher Perspektive ist es ein negativer, schließlich steht zum Schluss nicht die Aussöhnung mit den bestehenden Verhältnissen, sondern der Tod. Poruks` Biographen erkannten, dass Vairogs` Geschichte auf das zurückgeht, was der Autor in Dresden selbst erlebt, aber auch überlebt hatte. Nach dessen Rückkehr nach Riga erfolgte das eigene Dahinscheiden aus der bürgerlichen Welt allmählich und endete 1911 in der psychiatrischen Universitätsklinik von Dorpat.
Poruks wurde am 13. Oktober 1871 in Predeli im Nordosten Lettlands geboren. Er stammte aus einer Bauernfamilie, sein Vater war Gemeindevorsteher. Als Schüler interessierte er sich früh für Literatur und lernte offenbar für weitere Bildungsambitionen die deutsche Sprache. Zugleich hatte er ein musikalisches Interesse und beteiligte sich am dritten lettischen Liederfest. Als er die vorbereitende Schule für das Polytechnikum besuchte, nahm er zugleich Klavier- und Geigenstunden bei Musikern des Rigaer Stadttheaters. Sein Mathematiklehrer Herrmann von Westermann förderte ihn derart, dass Maija Krekle ihm "selbstlose Fürsorge" bescheinigte: "Westermann schenkte Janis einen hellbraunen modischen Anzug, einen Wollmantel mit Samtkragen. Die Aufmerksamkeit für sein Äußeres wurde dem Jugendlichen zur Manie. Er war zu Gast in den Häusern der Reichen, besuchte Konzerte, Opern, übte sich im Geigen- und Klavierspiel. Westermann zahlte ihm die besten Musiklehrer." (lv.la) Dann zahlte er ihm sogar den Aufenthalt in Dresden, wo Poruks ab 1893 am Konservatorium Musik studierte. Poruks` Biographen nennen dies die glücklichste Zeit des Dichters. Hier beschäftigte er sich mit Richard Wagner, mit der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches und er besuchte die Kunstgalerien der Stadt. Doch sein Studieneifer hielt sich in Grenzen. Er musste Dresden nach zwei Jahren wieder verlassen, weil seinem Förderer ein weiterer Aufenthalt zwecklos schien.
1897 begann der vielseitig Interessierte ein Chemiestudium am Rigaer Polytechnikum. Er finanzierte es halbwegs mit feuilletonistischen Artikeln für lettische Zeitschriften und Zeitungen wie Majas Viesis, Majas Viesis Menesraksts oder auch Dienas Lapa. Literarisch waren jene Jahre recht produktiv. Bereits am Ende seines Aufenthalts in Sachsen hatte Poruks in deutscher Sprache den Essay "Die Religion der Zukunft" geschrieben. Auf Lettisch erschienen von ihm viele Erzählungen und Gedichte. 1895 veröffentlichte er das Theaterstück "Herrnhuter", also ein Werk über jene Missionare, die seine Heimat stark geprägt hatten. Insgesamt hat Poruks mehr als 100 literarische Texte geschrieben, die zunächst meistens in Zeitschriften und erst später in gesammelten Werkausgaben erschienen. Er erzählte nicht nur Geschichten aus dem eigenen Umfeld, sondern benutzte zeittypisch auch orientalische, altgriechische und mittelalterliche Stoffe.
Doch in Riga sollte ihm eine Integration ins bürgerliche Leben nicht gelingen. Die Einnahmen aus seiner publizistischen Tätigkeit blieben derart dürftig, dass er die finanzielle Hilfe seiner Angehörigen benötigte. Das Chemiestudium brach er 1899 ab. Laut Krekle fehlte ihm die Ausdauer. Andere Quellen legen einen anderen Grund nahe: Offenbar hatte er sich an sozialistischen Studentenstreiks beteiligt und wurde deshalb vorübergehend exmatrikuliert. Als er zwei Jahre später sich am Polytechnikum wieder einschreiben durfte, studierte er mit dem neuen Ziel, Betriebswirt zu werden. Er erprobte sich erfolglos als Gutsverwalter´auf dem Kronsgut Bershof (Berzes muiza), begab sich für eine Weile in die private Klinik des Rigaer Psychiaters Max Schönfeldt, gab das Studium 1906 endgültig auf.
Die Heirat mit Ernestine Petersone im Jahr 1902 schien Poruks` Rettung zu bedeuten. Die 26jährige Petersone aus Cesis, die er dort beim Klavierspiel kennenlernte, war relativ wohlhabend und vermochte seinen Lebensunterhalt mit zu bestreiten. Doch ihre Mutter bemerkte früh die psychischen Auffälligkeiten des Schwiegersohns und bat noch am Hochzeitsmorgen unter Tränen die Tochter, von der Vermählung Abstand zu nehmen. Doch die Braut vermochte nicht, dem glücklichen Bräutigam das Jawort zu versagen. Für beide begann nach kurzem Glück die lange Leidenszeit. Poruks verschwendete das Geld, das er nicht verdiente, zog mit seiner Frau nach Riga in eine Wohnung, die er nicht bezahlt hatte, äußerte Suizidgedanken. Während er in Riga umherzog, viel trank, blieb seine Frau zuhause, sorgte sich um die Finanzen und musste sich seiner Eifersucht erwehren. 1903 wurde die Tochter Karmena Tatjana geboren. Die kleine Familie zog nach Cesis zurück, wo sie ihren letzten glücklichen und erholsamen Sommer erlebte. Doch dann kamen zur Trunksucht und zur Verschwendung auch noch Poruks` paranoide Vorstellungen hinzu. Er fühlte sich verfolgt und glaubte, dass man ihn vergiften wolle. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in der gerade gegründeten "Livländischen Landes-Irrenanstalt bei Stackeln" und in der Universitätspsychiatrie von Dorpat (Tartu). Am 25. Juni 1911 starb er dort an einem Nierenversagen.
Poruks` Geschwister warfen der Ehefrau vor, die psychische Erkrankung vorgetäuscht zu haben, um ihn in die Klinik abzuschieben. Maija Krekle kommt zu einem anderen Ergebnis. Sie beschreibt den Dichter als intellektuellen Menschen, der reich an Fantasie und melancholischen Gefühlen, aber auch willensschwach und geistig krank gewesen sei. Sie beruft sich auf den Psychiater Hermanis Buduls, der als Assistenzarzt Poruks in Dorpat begegnet war und sogleich eine Pathographie über ihn veröffentlichte. Diese psychiatrische Textsorte basierte auf Hypothesen des italienischen Forschers Cesare Lombroso. Psychiater nahmen damals an, dass Künstler unausgeglichene und daher psychisch labile Charaktere seien. Ein bekannter Pathograph war damals Paul Julius Möbius, der u.a. Goethe, Schopenhauer, Nietzsche und Robert Schumann aus psychiatrischer Sicht in seinen Büchern analysierte.
Psychiater Buduls war wie die meisten Kollegen seiner Zeit somatisch orientiert, d.h. er hielt psychische Erkrankung weitgehend für erblich bedingt. 1925 veröffentlichte Lettlands bekanntester Psychiater, der damals schon die Heilanstalt Rothenberg (Sarkankalna slimnica) leitete, ein zweites Buch über Poruks, zitierte darin ausführlich aus den Texten des Autors, auch aus den nicht für die Öffentlichkeit bestimmten, verwirrten Briefen an den Stackelner Klinikdirektor Albert Behr. Buduls sah zeittypisch in einer angeborenen Willensschwäche die Ursache für die Paranoia: "Der Wille war bei Poruks unstetig und schwach entwickelt. Seine innere Welt entsprach häufig nicht den äußerlichen, weltlichen Erscheinungen, dazu zeigte sich zunächst eine starke Neigung, sich von Äußerlichkeiten zu trennen und sein eigenes Leben zu führen, sich nur wenig um die äußeren Umstände kümmernd und zudem entschuldigte der Inhalt seiner inneren Welt häufig nicht seine persönliche Lebensweise, die durch den Hang nach ermattenden Lebensgenüssen gekennzeichnet war und weder die materiellen Umstände noch die Lebenswirklichkeit berücksichtigte. Diese Seelenstruktur, deren Keim teilweise bereits in Poruks` Kindheit zu beobachten ist, kann man nicht als harmonisch bezeichnen und ihretwegen geriet Poruks nach und nach in Konflikt sowohl mit sich selbst als auch mit seiner Umgebung."* Mit anderen Worten: Für Buduls verursachte Willensschwäche die Abkehr von der modernen Welt, disharmonische Erbanlagen bedingten demnach Poruks` Probleme und isolierten ihn, statt sich anzupassen. Eine umgekehrte Einschätzung, dass die moderne kapitalistische Welt mit ihren Härten, Konkurrenzen und Zerstörungen (also das, was sozialdarwinistisch als "Kampf ums Dasein" galt) das psychische Leid des Empfindsamen verursachte und dieser sich mit aller Willenskraft, mit seiner ganzen Poesie gegen sie verzweifelt zur Wehr setzte, kam nach damaligem psychiatrischen Verständnis nicht in Betracht.
Letten erinnern gerade an ihren unglücklichen Dichter mit Gedenkveranstaltungen, Büchern und einer Sonderbriefmarke.
* Hermanis Buduls: Poruka dveseles noskanas kreslainas dienas, Riga 1925, S. 5.
UB
Atpakaï