“Anstelle dessen sollten Sie darüber berichten, dass das Lukaschenko-Regime Angehörige von Drittstaaten kidnappt...”
Verteidigungsminister Artis Pabriks, Foto: Saeima CC BY-SA 2.0, Link
Die Deutsche Welle veröffentlichte am 18. August 2021 das Videomaterial von Obdachsuchenden im Niemandsland zwischen Belarus und Lettland (dw.com). Die Journalisten befragten Rawa, einen jungen Kurden, der aus dem Irak stammt. Die Handyaufnahmen zeigen Dutzende von Menschen auf einem Waldweg zwischen den Grenzpfosten der beiden Staaten, von deren Beamten sie bewacht werden. Menschen stehen, kauern und liegen in dicken Jacken auf dem Waldboden, kleine Kinder weinen. Der Sprecher berichtet, dass eine Familie bereits eine Woche auf diesem Gelände unter offenem Himmel festgehalten werde. Rawa klagt auf Englisch, dass es kalt sei, die Kinder seien krank und es fehle Nahrung. Seine Familie hatte gehofft, über Belarus einen sichereren Weg nach Deutschland oder Schweden zu finden als über das Mittelmeer. Für 20 Dollar hätten sie sich ein Einreisevisum für Belarus besorgt. Doch vor einer Woche seien sie von lettischen Grenzern festgenommen und an die Grenze zurückgebracht worden. Dabei sei es zu “erheblicher Gewalt” gekommen, man habe sie geschlagen und getreten, sogar Elektroschocks seien verwendet worden; das Bild eines Arms mit blutunterlaufenem Fleck wird eingeblendet. Ihre Hoffnung, nach Deutschland zu kommen, haben die Festgehaltenen aufgegeben. Sie hoffen nur noch darauf, möglichst bald wieder in den Irak abgeschoben zu werden.
Die Berichte über festgehaltene Obdachsuchende im Niemandsland alarmiert lettische Nichtregierungsorganisationen und den lettischen Ombudsmann für Menschenrechte. Egils Grasmanis von der Initiative “Gribu palidzet begliem” (Ich möchte Flüchtlingen helfen) teilte dem Webportal tvnet.lv am 19. August mit, dass nach inoffiziellen Berichten etwa 40 Personen auf diese Art ausharrten, darunter befänden sich 11 Kinder (tvnet.lv). Die belarussischen Grenzer verhielten sich brutal. Seine Initiative arbeite mit dem lettischen Grenzschutz zusammen, um medizinische Hilfe zu leisten. Nach der ärztlichen Behandlung seien aber keine weiteren Schritte erfolgt.
Zwar traf Innenministerin Marija Golubeva vor einigen Tagen Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, darunter seine Initiative, um Hilfe zu leisten, doch bislang sei nichts geschehen. Deshalb wendet sich Grasmanis nun an die Öffentlichkeit mit der Bitte um Nahrungsmittelspenden. Die Obdachsuchenden seien verzweifelt und warteten auf Hilfe.
Die Nachrichten von der Grenze beunruhigen auch Juris Jansons, den lettischen Ombudsmann für Menschenrechte, der aus diesem Anlass der Saeima und der Regierung einen Brief schrieb. Der Gesetzgeber hatte am 12. August 2021 den Ausnahmezustand über die Grenzregion zu Belarus verhängt (LP: hier). Seitdem sind lettische Grenzer ermächtigt, “illegale” Grenzgänger auch mit Mitteln physischer Gewalt zurückzudrängen. Die lettischen Behörden im Grenzgebiet sind angewiesen, keine Asylanträge anzunehmen. Jansons erinnert daran, dass es sich bei einem Teil der festgehaltenen Gruppe um Asylberechtigte handeln könne (tiesibsargs.lv). Er weist auf die Europäische Menschenrechtskonvention hin, die eine kollektive Abweisung untersagt. “Auch in der bestehenden Ausnahmesituation, in der staatliche Instanzen die `Abweisung` von der Grenze umsetzen, müssen im Falle potenzieller Asylbewerber rechtlich und faktisch Alternativen geboten werden, um Asyl zu beantragen.” Er warnt, dass die Folgen für die menschliche Gesundheit von Tag zu Tag schlimmer werden können, solange die Situation nicht gelöst sei.
Die Kinderrechtskonvention bestimme zudem, dass alle Tätigkeiten im Interesse der Kinder erfolgen müssen. Falls die Medienberichte tatsächlich die reale Situation widerspiegelten, müssten unverzüglich menschenwürdige Umstände für die Betroffenen im Niemandsland geschaffen werden, für eine der Witterung angepasste Unterkunft, Kleidung, Wasser und Nahrung gesorgt werden. Außerdem sei die Situation jedes illegalen Grenzgängers individuell zu prüfen.
Verteidigungsminister Artis Pabriks kommentierte gleich nach Veröffentlichung der englischen Twitter-Version des Videos empört (tvnet.lv). Er belehrte die DW-Journalisten, dass sie über das Falsche berichtet hätten: “Anstelle dessen sollten sie darüber berichten, dass das Lukaschenko-Regime Angehörige von Drittstaaten kidnappt, sich am Menschenhandel beteiligt und gegen solche Leute Gewalt anwendet. Fragen Sie ihre Regierung oder EU-Institutionen, wie sie den Druck auf Lukaschenko erhöhen können, um seine Verbrechen zu stoppen.”
Auch Innenministerin Marija Golubeva reagierte unmittelbar auf das DW-Video. Im Gegensatz zu Grasmanis erweckte sie den Eindruck, als seien menschenwürdige Umstände längst gewährleistet: “Die lettischen Grenzschützer versorgen mit Wasser, Nahrung, Medikamenten, Kleidung und ärztlichen Untersuchungen die Menschen, die belarussische Spezialkräfte versuchen, über die EU-Grenze zu drängen. Bestehen irgendwelche Gefahren für Gesundheit und Leben, werden sie in ein Krankenhaus gebracht.”
UB
Atpakaï