Keine Ideen für multiethnische Staaten im postsowjetischen Raum
Ein lettischer Nichtbürger-Pass, Foto: Volgust, Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link
Es besteht unter Politikern die Sorge, dass Debatten um das Leid der Ukrainer zu Spannungen zwischen Russischstämmigen und Angehörigen der Titularnationen in postsowjetischen Ländern führen. Von außen bewirkt russische Propaganda, dass Russischsprachige den Angriffskrieg für eine “militärische Operation” zur “Entnazifizierung” halten, also dessen Völkerrechtswidrigkeit bestreiten; innenpolitisch hingegen sind nationalkonservative Kräfte versucht, den Krieg zum Anlass zu nehmen, um russische Einwohner pauschal zu beschuldigen und ihre Minderheitenrechte weiter einzuschränken. LSM-Journalistin Sintija Abole befragte russischsprachige Landsleute, wie sich der Krieg auf das Zusammenleben zwischen den Ethnien in Lettland auswirkt (lsm.lv).
Der russische Dichter Dmitrijs Kuzmins, der seit 2014 in Lettland lebt, hat eine Initiative gestartet, um sich von der russischen Regierung zu distanzieren. Russen und Belarussen, die in Lettland wohnen und arbeiten, bekunden als Unterzeichner eines offenen Briefs ihre Erschütterung über das, was Putins Angriffskrieg anrichtet. Mehr als 100 Unterzeichner sind aufgeführt, darunter Unternehmer, Journalisten, Programmierer, Künstler und weitere Vertreter aus Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft: “Wir sind vollständig bereit, die Position Lettlands zu unterstützen, die bezweckt, der Ukraine zu helfen und sich mit ihr solidarisch zu erklären.” (satori.lv) Kuzmins befürchtet, dass sich durch den Krieg die Spaltung der Gesellschaft verschärfen könne. “Derzeit ist schon das Wort Russland derart toxisch, dass wir alle verantwortlich werden für das, was passiert, und das ist heftig und beängstigend, aber man kann nichts ausrichten, so ist die Lage. Doch Immigranten, die aus Russland nach Lettland gekommen sind, wissen, was dort für ein Regime herrscht. Uns ist es wichtig, der gesamten lettischen Gesellschaft und der Welt zu bekunden, dass es Russen gibt, die das Ganze durchschauen und mit dem ganzen Herzen dagegen sind, was in der Ukraine passiert. Doch bislang war uns nicht die Möglichkeit zu Änderungen dieses politischen und ökonomischen Systems in Russland gegeben.” In Russland könne man hundert Mal auf Demonstrationen gehen und sich festnehmen lassen und es ändere sich nichts; doch er hofft darauf, dass andere Zeiten kommen.
Eine russische Bürgerin bekennt im Lettischen Radio, eine Liebhaberin Lettlands zu sein und es oftmals bereist zu haben. Zuhause höre sie, dass man sich in Lettland gegen Russen abweisend verhalte; aber das habe sie kein einziges Mal erlebt. Sie begründet solche Warnungen mit dem Medienkonsum ihrer Landsleute: “In Russland bezieht die Gesellschaft die Information aus den Massenmedien und falls man keine persönlichen Erfahrungen hat, dann urteilt man gemäß der Medien, wo gesagt wird, dass den Russen etwas angetan wird und man helfen und Ordnung herstellen muss. Doch wie kann man jemandem mit Waffen in den Händen helfen? Das muss man unverzüglich stoppen!”
Philosoph Igors Gubenko glaubt, dass Russen nun viel Anlass hätten, über die Situation nachzudenken, aber das dürfte nicht von außen erzwungen werden. Manche seien etwas Richtung russischer Propaganda abgedriftet, doch man dürfe sie keinesfalls ausschließen, sondern müsse sich ihnen annähern: “Zumal Krieg etwas ist, das niemand will und deshalb glaube und sehe ich auch, dass viele Unterstützer des Putin-Regimes jetzt desorientiert sind, denn sie sehen, dass die Situation nicht richtig ist und das nicht normal sein kann, was gerade geschieht. Und meiner Auffassung nach ist das der Moment, den man nutzen muss, indem man versucht, davon zu überzeugen, dass dieses Regime verbrecherisch ist, dass diese Aggression unverzeihlich ist,” meint Gubenko.
Der Kulturwissenschaftler Deniss Hanovs beobachtet, dass im gesamten postsowjetischen Raum keine nachhaltige Vorstellung über eine politische Nation bestehe, an der alle ethnischen Gruppen beteiligt sind. Stattdessen seien im politischen Diskurs weiterhin Vorstellungen zu beobachten, von ethnischen Gruppen bedroht zu werden. Zu Russischstämmigen in Lettland meint er: “Man muss verstehen, dass für viele Russischsprachige Putins unwahre Sphäre ihre Realität ist, wo sie für sich emotionale und soziale Unterstützung finden, dort wartet jemand auf sie; das ist natürlich eine Illusion, eine Schimäre - doch sie erwartet niemand hier. Das ist die Stunde der Wahrheit, in der die politische Elite Lettlands zeigen kann, ob sie fähig ist, integrierend und in Sicherheitskategorien zu denken, denn der soziale Zusammenhalt ist ein wesentliches Phänomen der geopolitischen Sicherheit.”
Nach der Unabhängigkeit war die lettische Titularnation nach den repressiven Erfahrungen unter sowjetischer Herrschaft bestrebt, ihre Vorrechte wieder herzustellen. Dazu gehörte es vor allem, Lettisch wieder zur führenden Verkehrs- und Amtssprache des Landes zu erheben. Darüber hinaus verfolgten nationalistische Kreise die Herstellung eines ethnisch homogenen Staatswesens. Das führte dazu, dass die Saeima Anfang der 90er Jahre Immigranten, die nach der sowjetischen Okkupation von 1940 ins Land kamen, also überwiegend Russischsprachige, zu “Nichtbürgern” erklärte. Lettische Ministerien weisen zwar darauf hin, dass Nichtbürger nicht “staatenlos” sind, weil ihnen der lettische Staat ein lebenslanges Aufenthaltsrecht gewährt, doch sie haben kein Wahlrecht und dürfen keine Tätigkeit im Staatsdienst ausüben. Nach der Unabhängigkeit fanden sich nichtlettische Sowjetbürger als Nichtbürger in einem fremden Land wieder, wo ihre politische Beteiligung offenbar unerwünscht war. Die Zahl der Nichtbürger betrug zu Beginn mehr als 700.000 Einwohner, ein Drittel der Bevölkerung. Inzwischen hat sich die Zahl dank Naturalisierungsverfahren auf etwa 200.000 verringert. Kinder von Nichtbürgern erhalten inzwischen automatisch den lettischen Bürger-Pass.
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Eduard Franz stellte schon 2003 fest, dass die Russischsprachigen Probleme damit haben, sich mit dem lettischen Staat zu identifizieren: “Erst wenn der russischsprachigen Bevölkerung signalisiert wird, dass sie als Teil der lettischen Gesellschaft von den ethnischen Letten auch tatsächlich gewollt wird, wird sie keine Probleme mehr damit haben, deren Sprache zu lernen und Staatsbürger des gemeinsamen Staates zu werden.” (library.fes.de)
Udo Bongartz
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