Kunstfestival Survival Kit 12 eröffnet
04.09.2021
Die Zeit des allgemeinen Verschwindens als Krise und Chance
Logo von Survival Kit 12, Foto: LCCA
Am Freitagnachmittag des 3. Septembers 2021 erleuchtete die Spätsommersonne den Innenhof des Holzhaus-Komplexes an der Baznica iela 30, der sich in der Rigaer Innenstadt in der Nähe der Gertrudenkirche befindet. Etwa 50 Teilnehmerinnen (unter ihnen fünf Männer) hatten sich eingefunden, um das 12. Survival-Kit-Festival des Lettischen Zentrums für zeitgenössische Kunst (LCCA) zu eröffnen (lcca.lv). Im zweistöckigen Haus an der Straßenseite ist eine Wohnung als Museum zu besichtigen, in der das bekannteste lettische Dichterpaar, Rainis und Aspazija, gelebt hat. In den Tagen des Festivals wird das historische Inventar im Jugendstil-Dekor mit heutigen Kunstwerken ergänzt. Das Festival, das in der Not des Krisenjahrs 2009 geboren wurde, hat sein Konzept geändert. Bislang nutzte es verlassene historische Gebäude für seine Ausstellungen und Veranstaltungen. Diesmal findet es in acht Erinnerungsorten lettischer Poesie und im Hotel Neiburgs statt. Das LCCA wählte dafür zwei Kuratorinnen, die viel in Deutschland zu schaffen haben: Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza. Die Kunstdozentinnen und international beschäftigten Expertinnen organisierten in Berlin in der Pandemie-Zeit die Balkonprojekte am Prenzlauer Berg (bz-berlin.de). An diesem Nachmittag begrüßten sie die Versammelten und stellten ihr Programm vor.
Durmusoglu und Warsza machen im Festival die ganz großen multiplen Probleme unserer Tage zum Thema (lcca.lv): Dringlicher als je zuvor stellten sich die Fragen des Überlebens und des Alterns der Gesellschaft, der Altersdiskriminierung, Altenpflege in Pandemiezeiten. Diese gesellschaftlichen Phänomene werden überlagert von noch Existenziellerem, das vor allem Jüngere beschäftigt: Wird der Homo Sapiens, der im selbst gemachten (bzw. verschuldeten) Anthropozän an seinem eigenen Untergang werkelt, überhaupt überleben können? Das Verschwinden des Individuums, der Gesellschaft und ihrer Institutionen und vielleicht sogar der ganzen menschlichen Spezies bereitet Sorgen und Nöte, mit denen sich die Künstlerinnen und Künstler auseinandersetzen.
Die Malerin Ingrida Pucikane bekannte vor der Runde offen ihre Probleme mit der eigenen Körperlichkeit und ihrer Vergänglichkeit (lcca.lv). Sie will mit ihren Akt-Gemälden, die ihren Körper darstellen, die traditionellen, kosmetisch-industriellen Kategorien von schön und hässlich überwinden. Sie habe ihren Leib als ein Produkt angeschaut wie einen Baum im Wald. Ein solcher verliert seine Anmut im Alter nicht.
Auf dem Hof durften die Besucherinnen einer menschlichen Lieblingsgewohnheit nachgehen: Konsumieren, hier in der Form von Kunstgenuss. Mehrere Dutzend hübsch anzuschauende, braun und ocker gemusterte Kleinskulpturen lagen auf einem Tisch als “Future Bread” angerichtet. Es galt die für Museen ungewöhnliche Aufforderung, bei den Exponaten zuzugreifen und sie aufzuessen. Dagna Jakubowska und Joanna Gawronska-Kula kreierten bzw. backten diese Zukunftsvision. Die Teigfladen waren aus fremden Mehlsorten hergestellt, die derzeit noch wie edle Kolonialware erscheinen: Aus der Hirsesorte Teff, dem derzeitigen Superfood Quinoa und der Großen Brennnessel. Diese Pflanzen gelten als besonders witterungsbeständig und könnten sich als nahrhafte Gewächse auf europäischen Feldern verbreiten, als landwirtschaftliches Produkt einer Zukunft, in der Hitze- und Dürreperioden dem traditionellen Getreide den Garaus gemacht haben. Die Fladen waren etwas zu ausgehärtet, hatten aber Geschmack.
Das vergängliche Kunstwerk “Brot der Zukunft” ist ein wahrhaftiges Survival Kit. Die Künstlerinnen haben sich überlegt, mit welchen Nahrungsmitteln die Bewohner eines weitgehend zerstörten Planeten das ganze Jahr hindurch noch überleben können. Es sei ein “konkretes Angebot für eine Nahrung, die es ermöglichen könnte, das Ausmaß der Ausbeutung des Planeten zu verringern, zudem ein langfristiges Diät-Projekt im harmonischen Zusammenhang mit den Rhythmen der Natur, eine Warnung vor der baldigen Zukunft und ein Dokument verschiedener Klima- und Ernährungsszenarien für die Erfordernisse unseres Planeten.” Die Künstlerinnen wollen Vorstellungen und Spekulationen zwischen Utopie und Apokalypse anregen. Zu einer solchen Vorstellung gehört die von Politikern und ihren Wählern verdrängte Erkenntnis des Ökonomen und Wachstumskritikers Niko Paech, dass sich die ökologischen Grundlagen des menschlichen Daseins nur noch mit einer allgemeinen, dauerhaften Wirtschaftskrise sanieren lassen werden (youtube.de).
Danach luden Durmusoglu und Warsza zum Rundgang zu weiteren Stätten ihres Festivals. Ein Wermutstropfen des 12. Survival Kits ist der Umstand, dass diesmal ein Ticket von neun Euro erworben werden muss; das ist viel Geld für so manchen lettischen Geringverdiener und für das oft jugendliche Publikum. Andererseits ist es ein günstiger Preis, denn er bietet bis zum Ende des Festivals Zutritt zu acht Rigaer Gedenkmuseen (neben Rainis und Aspazija jene für Romana Suta und Aleksandra Belcova, Eduards Smilgis, Ojars Vacietis, Andrejs Upits, Krisjanis Barons sowie Janis Rozentals und Rudolfs Blaumanis).
Das Fehlen eines aussagekräftigen Titels für Survival Kit 12 (früher hatte jedes Festival sein Motto)* verdeutlicht das Unfassbare der multiplexen Katastrophe, die die lieb gewonnenen Gewohnheiten des Homo Sapiens und seine Art des Wirtschaftens und Konsumierens verursachen. Für die Kuratorinnen ist ein kritischer Moment erreicht, um die “kranken Gesetzmäßigkeiten” des wachstumgetriebenen Kapitalismus` zu durchbrechen, die darüber entscheiden, wer überleben darf und wer nicht. In den Erinnerungsorten der Dichtkunst wollen sie eine neue Sprache und neue Geschichten entwickeln, die unser alltägliches Leben unter den Umständen näher rückender Krisenphänomene tatsächlich abbilden, statt, so lässt sich hinzufügen, stereotyp den populistischen Eindruck zu erwecken, als sei der derzeitige westliche Wohlstand, der die Ressourcen der ganzen Welt (ja, demnächst auch im Weltall, wie die Raumfahrtpläne der Milliardäre offenbart haben) für sich beansprucht, mit veränderter grüner Technologie zu halten.
Survival Kit 12 hat wieder einen starken gesellschaftspolitischen Bezug, was Anhängern des politisch rechten Spektrums nicht gefallen dürfte, also in den völkisch geschlossenen Reihen, wo man Warnungen vor der Klimakatastrophe für fremdgesteuerte Hysterie, die Krise für ein inszeniertes Projekt einer internationalen Elite, die angeblich ihr eigenes Vermögen wie Unvermögen verschleiern will, und ausländische Künstler für Vorboten des Bevölkerungsaustauschs hält. Der Veranstalter, das LCCA, wird von George Soros` Open Society unterstützt, gegen die sich so manche rechtsradikale Polemik richtet. Tatsächlich öffnet das LCCA im Sinne des Philosophen Karl Popper mit internationaler Kunst und multikulturellen Veranstaltungen die lettischen Vorstellungsräume. Besucher haben noch bis Ende Oktober Zeit, sich von Survival Kit 12 anregen zu lassen oder sich über das Dargebotene zu ärgern.
UB
*Ursprünglich behauptete ich an dieser Stelle, dass "Poesie" das diesjährige Motto sei, was sich als Missverständnis herausstellte.
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