Lehrerprotest und Streik in Lettland
24.04.2023
Viel Arbeit und hohe Erwartungen für wenig Geld und fehlende Anerkennung
Am 24. April 2023 verwandelte sich Rigas Innenstadt in die Stadt der Frauen. Sie zogen in großen Gruppen durch die Gassen, versammelten sich zu einem großen Demonstrationszug, der am Gewerkschaftshaus startete und am Ministerkabinett und an der Saeima vorbei zum Domplatz führte. Dort fand am Nachmittag die Kundgebung statt. Mehr als 8000 Teilnehmerinnen wurden nach LSM-Angaben gezählt, das war für lettische Verhältnisse eine Großdemonstration. Nur eine geringe Zahl von Männern beteiligte sich. Die Demonstrantinnen waren größtenteils Lehrerinnen an staatlichen Schulen, die ihrer Regierung Wortbruch vorwerfen. Seit Jahrzehnten organisiert die Bildungsgewerkschaft LIZDA Aktionen, um Gehalts- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Doch Politiker und Abgeordnete brachen viele Zusagen; Lehr- und Erziehertätigkeiten gehören in Lettland immer noch zu den am schlechtesten bezahlten Berufsgruppen. Nach der Kundgebung begannen die Demonstrantinnen einen dreitägigen Streik.
Nach LIZDA-Angaben sind von den etwa 27.000 staatlichen Pädagoginnen etwa 24.000 Gewerkschaftsmitglied, also eine schlagfertige Gruppe, die politisch agieren kann. Etwa 20.000 von ihnen wollen in den Streik treten. Der Regierung von Krisjanis Karins werfen sie vor, zugesagte Gehaltserhöhungen nicht einzuhalten. Gewerkschaftsführerin Inga Vanaga kritisiert, dass bestimmte pädagogische Berufsgruppen wie Psychologinnen und Pädagoginnen mit besonderen Aufgaben von Gehaltssteigerungen ohnehin ausgeschlossen seien. Zudem müssten in manchen Gemeinden Verwaltungsmitarbeiterinnen an Schulen mit Brutto-Stundenlöhnen von 5,10 bis 6 Euro auskommen; sie werden vom zugesagten Brutto-Mindestlohn von 8,50 Euro für Lehrerinnen nicht profitieren. Mäßig bezahlt werden auch Dozenten und Lektoren an den Hochschulen, die wie die Kulturakademie teilweise anderen Ministerien unterstellt sind. Auch sie protestieren gegen geringe Gehälter. Neben mäßiger Bezahlung kritisieren die Gewerkschafterinnen schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitsüberlastung wegen fehlender Lehrkräfte, fehlendes Lernmaterial und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung.
Auf der Kundgebung traten neben der LIZDA-Vorsitzenden Inga Vanaga auch Kollegen aus den baltischen Nachbarländern auf, ein litauischer Vertreter meinte: “Schande der Ministerin, Schande dem Ministerpräsidenten, dass die Lehrer hier sein müssen.” Die Menge applaudierte und erwiderte die “Schande, Schande”-Rufe. Doch die Gescholtenen zeigten sich unerschrocken, obwohl LIZDA ihren Rücktritt fordert. Bildungsministerin Anda Caksa und Ministerpräsident Krisjanis Karins betraten die Bühne und erläuterten ihre Position. Karins zeigte ein gewisses Unverständnis für den Protest, weil innerhalb seiner Amtszeit die Gehälter bereits erhöht worden seien und dies auch weiterhin erfolgen werde. Für verspätete Beschlüsse wolle er die Verantwortung übernehmen. Zu seinem Regierungsstil gehört es, öffentlich Versäumnisse von Kabinettsmitgliedern anzudeuten, auch wenn sie seiner eigenen Partei Jauna Vienotiba angehören. “Mir ist das bislang nicht ganz klar, denn das Bildungsministerium behauptet bis jetzt, dass das, was wir beschlossen haben, vollständig in Übereinkunft mit dem ist, was ursprünglich besprochen wurde. Mir scheint, dass es in diesem Prozess vielleicht das eine oder andere Missverständnis gegeben haben könnte, deshalb werde ich sowohl die Vertreter der Gewerkschaft als auch des Bildungsministeriums an den Verhandlungstisch rufen, um die Sache zu einem Ergebnis zu bringen.”
Bildungsministerin Anda Caksa wies darauf hin, dass die Regierung den Kommunen 89 Millionen Euro mehr für die Schulen überweise. Hier liegt das Problem: Die Gemeinden sind nur verpflichtet, den Mindest-Bruttolohn für Pädagogen von 8,50 Euro ab 1. September zu zahlen, doch das bedeutet mancherorts gar keine Gehaltserhöhung. Der Rest hängt davon ab, ob sie “ökonomisch wirtschafteten”, wie Caksa anmerkte, um Lehrerinnen mehr zu zahlen. Caksa zeigte ein gewisses Verständnis für den Unmut, denn im Bildungsbereich müssten viele Probleme gelöst werden.
LSM-Journalistin Ieva Puke befragte am Tag der Kundgebung Lehrerinnen der 49. Rigaer Mittelschule, die seit der lettischen Unabhängigkeit den vierten Streik erleben. Von den 75 Lehrerinnen und Lehrern wird sich eine deutliche Mehrheit auch an dieser Arbeitsverweigerung beteiligen. Diese Mittelschule war die erste, die 1994 Protest organisierte. Die Mathematik- und Englischlehrerin Vita Vilka bemerkte im Interview eine Kluft zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Anerkennung ihres Berufs: “Die Gesellschaft stellte damals wie heute hohe Anforderungen an die Lehrer - sie sollen freundlich sein, inspirierend, verständnisvoll, aber die Hilferufe der Pädagogen werden nicht beachtet.” Vilka nimmt an, dass manche ihrer Kolleginnen mit dem Gehalt nicht über die Runden kommen; zugleich relativiert sie die Kritik an der Regierung: “Es ist nicht so, dass die Regierung und das Bildungsministerium den Pädagogen gar nicht zuhört, eine kleine Gehaltszulage hat es in dieser Schule im Februar gegeben, aber nach den Erfahrungen der letzten Jahre fühlen sich die Mitarbeiter in den Schulen unsicher, dass jener wirklich die nächsten Schritte folgen werden.”
Inga Vanaga kündigte an, dass der Streik fortgesetzt werden könnte, wenn die Verhandlungen mit der Regierung scheiterten.
Udo Bongartz
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